Das Drachentor
ihm. Sein Blick wanderte über den schmalen, verkniffenen Mund und die dichten Augenbrauen. Zwei Augen sahen ihn an, tief und dunkel wie Felshöhlen, traurig und schön wie die Grotten. Entschlossen. Fiebrig.
Alasar war kein Narr. Natürlich wusste er, wie er aussah. Aber er hatte es einfach nicht beachtet. Er hatte nicht beachtet, dass seine Stimme nun tiefer und voller klang oder ihm das Schaufeln und Graben leichter fiel, auch nicht die Barthaare, die ihm am Kinn sprossen.
Nun nahm er seine schwarzen Haare in die Hand und band die vordersten Strähnen sorgfältig zurück, sodass das kantige Gesicht nicht mehr dahinter verschwand. Dann zog er sein Messer und setzte es an sein Kinn. Doch bevor er den ersten Schnitt machen konnte, schob sich etwas in sein Blickfeld. Eine Klinge.
Alasar drehte sich zu Rahjel um. Er war lautlos hinter ihn getreten. »Nun nimm schon«, sagte er leise und hielt Alasar die Rasierklinge entgegen. »Damit geht es besser als mit einem Messer.«
Alasar zögerte, doch dann ergriff er die Klinge. Er beugte sich wieder über die Pfütze und nahm eine gründliche Rasur vor, bis sein Spiegelbild mit den herabrieselnden Barthaaren verschwamm.
Als der erste Tunnel den Wald erreichte, brachen die Kinder vor
Freude in Tränen aus, sangen und tanzten und feierten einen ganzen Tag und eine ganze Nacht durch.
»Du hattest recht«, rief Magaura und fiel Alasar um den Hals. »Du hattest recht, Alasar, du hattest recht. Kein Ziel ist unerreichbar, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast!«
»Ach, Magaura!« Er schloss sie fest in die Arme. »Jetzt schaffen wir uns ein riesiges unterirdisches Reich, vom südlichen Horizont bis zum nördlichen Ende der Welt! Oh, Magaura … du und ich, und dir wird nie etwas passieren, wenn du bei mir bleibst.«
»Ich bleibe immer bei dir«, rief sie lachend.
Einige Kameraden spielten auf Flöten und Trommeln. Andere klatschten und stampften mit den Füßen, es wurden die Lieder der Höhlen gesungen und man tanzte in wilden Kreisen. Alasar stieg auf den höchsten Felsvorsprung und blieb einen Augenblick dort oben stehen, als wittere er wie ein Wolf die Luft. In seinen dunklen Augen spiegelte sich der Fackelschein der Halle.
»Heute ist der Beginn einer neuen Welt!«, rief er, und als Alasar die Arme hob, hoben seine Gefolgsleute ihre Arme und klatschten und jubelten. »Eine neue Welt! Eine neue Welt! Unsere Welt!«
Alasars Blick schweifte über die jubelnde Menge, die bewundernden Gesichter, die Halle und die Gewölbe dahinter … Er sah die endlosen Tunnel vor sich, die ihm ermöglichen würden, heimlich überallhin zu gelangen, seine Anhänger um sich zu scharen, wo immer ein myrdhanisches Dorf zerstört und nur die Kinder übrig geblieben waren; er sah das Reich der Zukunft, das verborgen vor den jetzigen Mächten wachsen würde wie eine Pflanze unter der Erde, ehe ihre Triebe ans Tageslicht brachen und mit ihnen eine neue Zeit … Es würde wachsen, das ungeformte Volk unter ihm, die Jäger, die Tunnelgräber, die Krieger. Das Höhlenreich würde aufblühen mit seinen Gewölben und Gängen, Tunneln, Pfaden und Irrwegen. Alasar blickte auf all das hinab und erkannte, dass es seins war. Sein Werk. Sein Reich. Sein großes, dunkles Königreich.
Der Anfang
Ardhes schlug die Augen auf, als ihr Vater verstummte. Er erwachte aus der Vision und sie sahen sich eine Weile an. Fast kam Ardhes sich einsam vor, nun da sie mit ihrem Vater in der Dunkelheit saß und die Geschichte von dem Wolfsjungen verklungen war. Der Junge hatte sie so lange begleitet und war stets bei ihnen gewesen - auch wenn er selbst natürlich nichts davon gewusst hatte. Sie kannte ihn von Kindheit an und nun war er ein Mann geworden.
Auch Ardhes war älter geworden. Sie musste an die verstrichene Zeit denken, als sie so dasaß und den Worten nachlauschte, die das Ende einer so langen Geschichte und den Beginn einer noch längeren verkündeten.
»Nun geht es also los«, sagte Octaris und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. »Wir sollten Alasar verlassen, bis Ahiris seine Geschichte ins große Geflecht der Welt einwebt. Bis dahin … lass uns sehen, was ein anderer der Ahirah macht: Revyn.«
Ardhes nickte und ihr Herz klopfte wild. »Seine Geschichte soll beginnen.«
Revyn
Meister Morok
Haradon war ein riesiges Land. Seine südlichen Regionen streckten sich wie lange Finger bis zu den Küsten aus und nährten sich von den Reichtümern des Meeres; im Norden fraßen sich die Städte
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