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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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alle Beschreibungssysteme Grenzen haben. Die zu überschreiten sei er nicht da.
    Wenn ich denke, mit welcher Kraft Ludwig Behauptungen machte und verteidigte, sehne ich mich nach Ludwig. Er sei so weit, sagte Ludwig nach seinem fünfzigsten Geburtstag, die zweite Potenz zu erleben. Er erlebe schon, dass die zweite Potenz darin bestehe, sie nicht zu realisieren. Dann sei er also ununterbrochen potent, wach, sprungbereit, geil und griffsicher. Er darf nur nicht sein wollen, was er zu sein scheint. Und er wollte wissen, ob der gut zehn Jahre ältere Korbinian damit schon eine Erfahrung habe.
    Korbinian schaute mich an. Das hieß: Du weißt doch, dass ich über so was, wenn überhaupt, dann nur mit dir sprechen kann. Sag das doch. Und ich sagte es. Sagte, dass Korbinian über dergleichen nur mit mir sprechen kann.
    Korbinian ist das Gegenteil von Ludwig. Darum haben sie so gut zusammengepasst.
    Aber sagen wollte ich Ihnen, dass ich nicht gern allein bin. Alles, was mein Alleinsein mildert, ist gut. Sie winken mit der Jetzt-schon-Erlösung. Ich tu so, als sei sie vorstellbar.
    Gute Nacht,
Ihre Teilhaftige

13
    Liebe Professorin,
    das darf ich Iris nicht sagen, dass sie sich in paulinischer Genauigkeit erlebt! Und was für eine Hymne auf Ihren Paulus, dass eine Heutige ihn in sich entdeckt. Iris spricht zur Zeit nicht. Das ist eingeführt zwischen uns. So wie andere alkoholfreie Tage oder Wochen machen, macht sie Tage ohne Worte. Sie kündigt das an durch Anschläge im Bad. Da steht dann: Jetzt wortlos. Alles findet statt wie immer, nur eben ohne Wörter. Nie steht da, wie lange wir wortlos sein sollen. Am Anfang habe ich das für einen Iris-Spleen gehalten, über den ich grinsen darf. Je öfter sie solche wortlose Zeiten stattfinden lässt, desto mehr nehme ich daran teil. Dass ich ihr Schweigen nicht durch Plappern stören darf, habe ich schon beim ersten Mal gewusst. Aber teilnehmen am Schweigen – das habe ich erst nach und nach gelernt. Iris macht aus uns vielleicht noch ein Kloster. Es gibt Zeichen, die mich vermuten lassen, während der Wortlosigkeit schreibe sie. Nicht die x-te Folge Haldenhof , sondern: Das 13. Kapitel.
    Liebe Aletheia, dass ich Ihnen das und überhaupt schreiben muss, zeigt, dass ich unbelehrbar bin. Ich spür’s, die Unbelehrbarkeit ist meine einzige Fähigkeit, auf die Verlass ist.
    Es ist nichts. Und nichts wird je sein. Dann darf ich doch maßlos sein. Den Boden unter den Füßen verlieren. In einer einzigen Minute könnte ich mir klarmachen, dass ich das Unmögliche will. Je später ich mir das sage, desto schlimmer wird die Rückkehr unter das Joch des Möglichen.
    Die Fähigkeit, unter den Umständen weiterzuleben, die allein möglich sind für mich, nimmt mit jeder Sekunde der Einbildungsherrschaft ab.
    Die Lage täuscht überhaupt nicht. Nur ich täusche mich. Prinzipiell. Andere lassen sich nicht täuschen. Die bleiben unbewegt, verharren finster beziehungsweise realistisch. Ich glaube beim geringsten Schein, es sei etwas gewonnen. Ich käme mir undankbar oder fühllos vor, wenn ich, falls ein Tag unbestreitbar prächtig daherkommt, nicht alle Tage beziehungsweise die ganze Welt für schön erklären würde. Und wenn der nächste Tag mich mit aller Härte zum Widerruf zwingt, hoffe ich, dass ich diesen schlimmen Tag morgen widerrufen werde. Wie gesagt: unbelehrbar.
    Ich kann Ihre Briefe auswendig. Vom vielfachen Lesen. Einzelne Sätze kann ich anstarren wie Bilder. Es geht von ihnen viel mehr aus als von jedem Bild. Ob es der Inhalt ist oder ihr wörtliches Da-Stehen, das weiß ich nicht. Dass Sätze, Schriftzeichen, Buchstabenfolgen, Wortreihen so wirken können, ist mir neu. Manche, meist kürzere, leicht überschaubare Sätze, liebe ich richtig. Liebe ich zärtlich. Entschuldigen Sie! Wir sind die Extreme, die einander berühren. Kann ein Klischee schöner angewendet werden? Und dass Sie mir die Paulus-Stelle liefern: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
    Das, liebe Professorin, ist reine Literatur. Wann haben denn unsere Vorfahren das auseinandertreiben lassen, das himmlische und das irdische Buchstabieren ihrer Lage! Sollten Sie darüber eine Vorlesung halten, sitz ich im Saal! Keine Angst. Ich sitze nirgends. Nirgends, wo Sie sind. Denn es ist nichts. Und es war nichts. Und es wird sein: nichts.
    Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit. Ich erlebe mich, mich hinüberhangelnd, ohne je drüben den Fuß setzen zu können auf etwas,

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