Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
Zukunft, feiern wir zu viert ein Ende der Verrats-Epoche, dann können wir über alles schwätzen und lachen, aber dass ich Ihnen Iris’ gehütetstes Geheimnis hingeblättert habe, das darf sie, das dürfte sie nie erfahren.
    Sie glauben jetzt, ich steigere den Geheimhaltungsgrad nur, um die Verrats-Lust zu steigern. Wenn dem so ist, dann ohne dass ich es weiß und will.
    Vom 13. Kapitel und so weiter wird zwischen uns nie mehr die Rede sein. Falls zwischen uns überhaupt noch von irgendetwas die Rede sein kann.
    Unsere Routine würde verlangen, dass ich warte, bis Sie auf meinen Iris-Brief reagieren. Aber genau das schaffe ich nicht. Liebe Frau Theologin, absolvieren Sie mich. Sagen Sie: Es ist nichts geschehen, ich habe nichts gelesen, Ihre Gewissens-Unruhe spricht für Sie, reden wir wieder von uns.
    Nämlich …
    Dann schildern Sie, mit welchen aufregenden Meldungen Korbinian am letzten Freitag die Freitreppe heraufstürmte, in der Rechten die Orchidee XY, die erste Orchidee dieser Art, die den Sprung nach Europa geschafft hat.
    So unsicher wie Ihnen gegenüber war ich noch nie.
    Ich will es Ihnen recht machen. Und ich will sein, wie ich bin. Beides geht nicht. Glaube ich. Fürchte ich. Wenn ich als Hemmungsloser keine Chance habe, habe ich keine. Zielend, kalkulierend komme ich mir jämmerlich vor. Ich kenne Sie doch gar nicht. Wie soll ich es Ihnen dann recht machen können! Mich muss es wundern, dass Sie mir überhaupt geantwortet haben und immer noch antworten. Jedes Mal, wenn ich Ihnen geschrieben habe, bricht die Angst aus, dass genau so, wie ich Ihnen gerade geschrieben habe, Ihnen nicht geschrieben werden darf. Und dann – jetzt schon mehr als einmal – dieses Wunder: Sie schreiben mir. Sie sind Theologin. Anders kann ich mir nicht erklären, warum Sie meine Zudringlichkeiten so sanft zur Kenntnis nehmen. Ich verbeiße mich in die Vorstellung, wir seien EINE Fakultät. Weil wir beide versuchen, unsere Unhaltbarkeit mit Wörtern zu … zu … zu … ich weiß nicht, was wir mit unseren Wörtern unserer Unhaltbarkeit antun.
    Es gibt Schriftsteller, die alle Spezialisierungen überwunden haben, die also vom Ganzen handeln. In meinem Strandhafer -Buch, das Sie wirklich nicht lesen dürfen – ein Buch, das Sie lesen dürfen, will ich noch schreiben (es wird Sternstaub heißen) –, im Strandhafer -Buch habe ich den zitiert, der mehr als jeder andere das Ganze meinen konnte: Walter Benjamin. Ich habe ihn brauchen müssen, weil er mein Thema, die innige Verwachsenheit der Kultur mit der Barbarei, beschrieben hat. Aber Ihnen will ich doch nichts dergleichen sagen, sondern Ihnen sozusagen überreichen die von Walter Benjamin für uns gerettete talmudische Legende, die meldet, dass die Engel – und zwar immer wieder neue, in unzähligen Scharen – geschaffen werden, um vor Gott ihren Hymnus zu singen und gleich danach aufhören zu sein, sich auflösen ins Nichts. Das sind doch wir? Bestenfalls. Oder? Ich wenigstens wäre da gern so etwas Zahlloses, Singendes, Verschwindendes. Dass Benjamin übrigens das Wort Erlösung seriös brauchen kann, wissen Sie sicher.
    Von dieser Wolke, auf die ich mich geschwungen habe, um mich in eine riskante Kollegialität mit Ihnen zu bugsieren, stürze ich mich jetzt sofort steil hinab, ins Wirkliche, wo ich hingehöre, in die Sphäre des Misslingens. Das werden Sie verstehen, wenn ich Ihnen schildere, was ich geträumt habe in der vergangenen Nacht.
    Ich lag auf dem Rücken. Wo, kam nicht vor. Einer, von mir aus gesehen ein Riese, kam auf mich zu. Grauhaarig, aber der Schnauz ganz schwarz. Er hob die Hand und war da und schlug zu, mir ins Gesicht. Meine Arme, meine Hände aus Blei. Ich konnte sie nicht vors Gesicht bringen. Der schlug noch einmal. Jetzt schrie ich. Offenbar nicht nur im Traum, sondern wirklich. Iris, tief erschreckt, beugt sich herüber. Weckt mich. Streichelt mich so, dass ich frage: Warum schlägst du mich ins Gesicht? Du hast furchtbar geschrien, sagt sie. Ich danke ihr. Sie sinkt zurück in ihr Bett. Ich liege wach. Ich will nicht mehr einschlafen. Nie mehr. Wenn solche Träume auf mich warten.
    Was mache ich tagsüber in meinem Leben falsch, dass es zu solchen Träumen kommt? Frau Professor? Entschuldigen Sie, bitte, ich frage nicht Sie, sondern mich.
    Kann es sein, dass das die Traumrechnung ist für den bisher höchsten Verrat?
    Ich musste bestraft werden. Es gibt zu viel, für das ich bestraft werden muss. Und in Träumen bestraft werde. Weil

Weitere Kostenlose Bücher