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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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es diesmal so krass war, kommt der letzte Verrat als Ursache in Frage. Der Traum ist eben dumm! Er hat keine Ahnung davon, auf welcher Ebene wir zwei verkehren. Ich z.B. weiß, dass ich das, was zwischen Ihnen und mir hin- und hergeht, keinem Menschen erklären könnte. Auf uns zwei müsste niemand «eifersüchtig» sein, um es einmal ganz simpel ehetechnisch zu sagen.
    Und weil ich Sie nicht zu Mitleid = Gefühlsersatz provozieren will, teil ich den Traum von vorgestern mit. Da erschien Sprache als solche, englisch. Da hörte ich: From strange simplicity to familiar complexity.
    Mir ist es aufgefallen, mir musste es auffallen, dass ich nicht «eifersüchtig» bin auf Korbinian Schneilin. Ich musste mir für mich das klären. Und ich fand: Was wir, Sie und ich, mit einander haben, das können nur Sie und ich mit einander haben. Diese Einbildung allerdings muss sein. Ohne die ist nichts. Wir zwei kommen, gestatten Sie, als Paar nur einmal vor. Das kann vielleicht jedes Paar von sich sagen oder glauben. Aber, bitte, sagen Sie mir etwas, was wir, Sie und ich, unseren Ehe-Hälften wegnehmen? Was wir einander geben, können nur wir einander geben. Was ich Ihnen schreiben muss, habe ich noch keinem Menschen schreiben können.
    An unserem Anfang haben Sie mir geschrieben, das Geständnis, mein Sachbuch sei das Sachbuch eines Belletristen, sei Ihnen, der Theologin, vertraut. Und sofort fühlte ich mich aufgenommen in einer Familie, in die ich gehöre, deren Sprache ich verlernt habe, aber noch verstehe. Jetzt ergänze ich als Roman-Autor: Auch jeder Roman ist ein Sachbuch. Wenn er das nicht ist, ist er auch kein Roman. Der Roman, ein Sachbuch der Seele.
    Ihr Anempfinder

12
    Lieber Anempfinder,
    ein Iris-Satz heißt also: Wenn ich einen anderen ablehne, lehne ich mich ab. Und im Paulus-Brief an die Römer steht: Indem du über den anderen urteilst, verurteilst du dich selbst.
    Das darf ich, glaube ich, der Nicht-Theologin doch noch mitteilen. Vielleicht freut es sie ja, in sich einen Paulus-Satz entdeckt zu haben.
    Was Sie mir jetzt geschrieben haben, ergänzt sich in mir: Ich bin nicht gern allein. Korbinian kann allein sein. In seinem Kopf ist immer konkreter Betrieb. Problembetrieb. Er sucht immer nach einer Lösung. Er kann die Lösung nur allein suchen und finden. Meine Erlösung ist abhängig von anderen. Das geringste Anzeichen von Brauchbarkeit erlebe ich als Zugehörigkeit, Stärke, Gesundheit, Vorzeichen von Glück. Darum kann ich mit Ihnen Briefe wechseln, weil Sie mir den Eindruck vermitteln, ich sei erlebbar, verstehbar. Also nicht allein. Ich muss mir selber nicht andauernd verständlich sein, wenn Sie so tun, glaubhaft so tun, als verstünden Sie mich. Das anstrengungslose Sein-Dürfen ist in meinem Beruf das Ende, die Todsünde. Das nennt mein Meister – und Sie wissen, wer das ist – das Zurückblicken nach den Fleischtöpfen Ägyptens, das Zurückfallen in irgendeinen -ismus. Wie die Katze auf ihre vier Füße, sagt er. Verlangt ist aber, auszuhalten die Einsamkeit deines Glaubens. Da gibt es keine nachbarliche Wärme und Ermäßigung. Die Sie mir bieten. Übrigens, dass mein Meister da dem Herdenverächter Nietzsche verflucht nahekommt, darf ich doch bemerken. Und würde am liebsten sagen, das sei überhaupt männlich. Sie halte ich für einen unverdächtigen Nachbarn. Enttäuschen Sie mich, bitte, nicht.
    Neulich war der Hirnforscher bei uns. Samt Frau, die beachtlich ist. Er strömt eine erstickende Toleranz aus. Die Wissenschaft kann Gott nicht beweisen, aber auch nicht widerlegen, tönt er. Als Neurologe sei ein Leben nach dem Tod schwer vorstellbar. Und während er so weitersalbadert, fängt seine Frau an, mir zu erzählen, was sie am Tag zuvor am Bahnhof Zoo erlebt hat. Ein Betrunkener geht durch die Eingangshalle und zieht eine Onanier-Pantomime ab. Und zwar ganz wild. Stellt sich immer vor neue Leute, macht ihnen das vor. Und tut das so, sagt die Hirnforscherfrau, dass es eine Aufforderung ist: Legt doch eure Hand an mich, verhaftet mich doch, tut irgendetwas mit mir. Aber alle schauen nur so rasch wie möglich weg, gehen vorbei. Solange er sein Geschlechtsteil nicht wirklich entblößt, kommt ihm niemand zu Hilfe. Auch das Verhaftetwerden, sagte die Hirnforscherfrau, muss man sich verdienen. Ich habe bemerkt, dass Korbinian lieber der Frau zugehört hätte als ihrem Mann, der gerade zu der Einsicht kam, dass seine Beschreibungssysteme ein Leben nach dem Tod nicht vorstellbar machen, dass aber

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