Das dritte Leben
kurz oder lang würde sie von ihm Antwort verlangen.
Alles abstreiten? Lügen? Was würde das nützen? Konnte er so überzeugend lügen?
Es war ein leichtes für sie festzustellen, daß er damals auf dem Flüchtlingsschiff ›Schill‹ gewesen war; das konnte er nicht leugnen, hatte es auch nie verschwiegen.
Natürlich hatte sie ihn wiedererkannt. Natürlich würde er ihre Fragen nicht mit einer Lüge beantworten können. Das einzige, was er tun konnte, war, auf ihre Verschwiegenheit zu hoffen.
Hatte sie nicht ganz offenbar ihren eigenen Mann im unklaren darüber gelassen, daß Sabine gar nicht seine Tochter war?
Das Mädchen. Sabine.
Plötzlich war die Versuchung riesengroß, das junge Mädchen zu sehen, mit ihm zu sprechen. Schließlich war Sabine seine Tochter!
Die Hand zuckte nach der Türklinke. Dann riß er sie zurück, als hätte er sich die Finger verbrannt.
Bin ich denn ganz von Sinnen? dachte er. Will ich mich denn selbst verraten, mich selbst ans Messer liefern? Nur keine falsche Sentimentalität.
Er mußte dagegen ankämpfen, wenn er sich selbst nicht aufgeben wollte. Schnell ging er den Flur entlang in sein Ordinationszimmer.
Sabine Gertner durfte am Ende der Woche nach Hause. Sie hatte den Schock des Unfalls überwunden, ihre oberflächlichen Schnittverletzungen verheilten gut. Niemand konnte ihr ansehen, daß sie acht Tage zuvor einige der schlimmsten Stunden ihres Lebens durchgemacht hatte.
Sie freute sich auf die Rückkehr in das alte, vertraute Haus in der Lärchenstraße, obwohl es ihr leid tat, daß ihre Mutter noch im Krankenhaus bleiben mußte. Sabine hatte sie in den letzten Tagen mehrfach besucht. In ihr Zimmer war sie nicht verlegt worden, weil die Mutter nach der ersten, beinahe aufsehenerregenden Phase der Genesung plötzlich apathisch und deprimiert war. Niemand wußte zu sagen, woran das lag – außer vielleicht Professor Wiegand, aber der schwieg natürlich. Er besuchte seine Patientin nun jeden Tag, aber immer nur zur allgemeinen Frühvisite, wenn ein Schwarm von jüngeren Ärzten, Assistenten und Krankenschwestern ihm folgte, an seinen Lippen hing, über jedes noch so laue Scherzwort lebhaft lachte oder beifällig nickte, wenn er etwas sagte, was auch nur im Entferntesten bedeutend klang.
Es schien fast, als umgebe sich der Professor mit einem Schutzwall von wehenden weißen Mänteln, blitzenden Brillen, baumelnden Stethoskopschläuchen und nickenden Köpfen.
Aber von alldem hatte Sabine natürlich keine Ahnung. Sie war ein bißchen traurig, daß ihre Mutter noch nicht entlassen werden konnte, aber gleichzeitig war sie zufrieden, weil sie sie dort in den besten Händen wußte.
Richard Gertner holte sie in seinem neuen Wagen ab. Sabine bemerkte sogleich, daß er in keiner guten Laune war. Er fuhr sehr nervös. Sie versuchte, ihn aufzumuntern, aber er antwortete nur einsilbig und kurz angebunden, so daß sie es bald aufgab, sich überhaupt mit ihm zu unterhalten. Sie blieb schweigend in der Ecke ihres Sitzes hocken, bis sie in der Lärchenstraße eintrafen. Dort wartete eine Überraschung auf sie.
Mit offenen Armen stand ihre Großmutter, Thea Günders aus Köln, in der Tür.
Sabine fiel ihr um den Hals. »Omi, daß du da bist!«
»Dein Vater hat das einzig Vernünftige getan«, sagte die alte Frau resolut. »Er hat mich geholt, damit ich ein bißchen nach dem Rechten sehe, solange deine Mutter noch krank ist. Laß dich anschauen, Kind.«
Sie schob Sabine von sich. »Du bist ja noch gewachsen – und hübscher bist du auch wieder geworden.«
Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Es war beinahe ein Idyll.
Aber das änderte sich schnell. Nach dem Abendessen, als die Großmutter in der Küche das Geschirr abwusch, holte Richard Sabine zu sich in sein Arbeitszimmer.
Er nahm sich einen großen Whisky, stopfte sich seine Shagpfeife, ging im Zimmer auf und ab, wandte sich dann abrupt Sabine zu.
»Ich mag keine Heimlichkeiten in der Familie«, sagte er. »Vor allem nicht in solch einer ernsten Situation. Deiner Mutter geht es besser, aber außer Gefahr ist sie immer noch nicht. Ich sage dir das, damit du weißt, daß ich dich nicht mehr für ein kleines Kind halte. – Vielleicht hattest du heute nachmittag den Eindruck, aber dieser Eindruck täuscht. Für mich bist du ein erwachsenes, gescheites Mädchen. Nun denn.« Er sog an der Pfeife, klopfte sie dann mit einer Bewegung des Unmuts im Aschenbecher aus. Sabine saß ganz ruhig. Sie hatte nicht die geringste Ahnung,
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