Das dritte Leben
sich ganz auf mich verlassen«, sagte Wiegand ernst. »Kein Wort wird je über meine Lippen kommen. Ich verstehe Ihre Situation doch nur zu gut. Sie wollen, daß Sabine weiter in dem Glauben bleibt, sie sei Ihre leibliche Tochter – und so soll es auch sein. Ihr Mann wird ebenfalls nichts erfahren. Vertrauen Sie mir.« Und er fügte fast beiläufig hinzu: »Ich rechne natürlich auch auf Ihre Diskretion, was meine Rolle in der Angelegenheit betrifft.«
»Aber selbstverständlich«, versicherte Hilde, froh, daß Wiegand soviel Verständnis für sie aufbrachte; sie hatte befürchtet, daß er vielleicht verlangen würde, Sabine, seine Tochter, einmal privat wiederzusehen.
Sie hatte endlich an diesem Tag den Mut gefaßt, Wiegand anzurufen, um reinen Tisch zu machen, wie sie das bei sich nannte. Sie wollte wissen, was der Professor plante, nun, nachdem er nach so vielen Jahren nach dem Drama auf der Ostsee sein Kind wiedergesehen hatte. Und sie konnte zu ihrer Erlösung feststellen, daß der Professor überhaupt nichts zu tun gedachte. Seine Einstellung war unmißverständlich: Schlafende Hunde soll man nicht wecken.
Da sieht man es wieder, dachte Hilde, es ist alles Unfug mit der Stimme des Blutes und so. Sabine ist meine Tochter, sie ist Richards Tochter.
»Ihr Mann – ahnt nichts?« fragte Professor Wiegand.
Hilde schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm erklärt, daß ich in der Dorfwirtschaft, als ich aus meiner Bewußtlosigkeit erwachte, nur wirres Zeug geredet habe.«
»Und er glaubt Ihnen?« fragte Wiegand.
»Er glaubt mir«, antwortete Hilde fest.
Der Professor blickte auf seine hauchdünne Platin-Armbanduhr. »Mein Gott, schon sechs vorbei – leider, meine Gnädigste, muß ich dringend ins Laboratorium.« Er winkte der Bedienung. »Jedenfalls – es war mir eine Freunde, Sie so gesund wiederzusehen, auch wenn unser Treffen fast einer kleinen Verschwörung gleichen mag.« Er lächelte schmal.
Sie erhoben sich. Er beugte sich ein wenig steif über ihre Hand. Er nahm seinen Hut, geleitete Hilde nach draußen.
»Wenn ich Sie irgendwo absetzen kann?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Luft ist so gut heute, so frisch, ich werde noch einen kleinen Schaufensterbummel machen.«
»Also dann – leben Sie wohl.«
»Leben Sie wohl, Professor Wiegand.«
Er entfernte sich rasch. Hilde hoffte, während sie seinem ein wenig gebeugten Rücken nachblickte, ihn zum letzten Mal in ihrem Leben gesehen zu haben.
Langsam schlenderte sie zur Brienner Straße hinüber. Sie überquerte die Fahrbahn, blickte in die Schaufenster des großen Ausstattungshauses. Schwarzes Leder, viel Chrom, viel Glas, das waren heuer die modischen Aspekte moderner Wohnungseinrichtungen. Blitzende Kristall-Lüster in zylindrischen Formen, niedrige Palisanderschränke, elfenbeingelackte Schlafzimmer mit riesigen Betten, zottige, buntgefärbte Felle, weiche, weißgeknüpfte Teppiche.
Vielleicht richte ich mir einen neuen Salon ein, wenn Richard den Auftrag von der Südbau bekommt, dachte sie.
Zwanzig Schritte hinter ihr, immer im Schatten der Häuser bleibend, folgte ihr Richard. Er kam sich dumm vor, daß er seiner Frau nachspionierte, aber er war so ratlos nach diesem zufällig beobachteten Zusammentreffen von Wiegand und Hilde, daß er einfach nicht wußte, was er tun sollte. Und so folgte er seiner Frau wie ein bezahlter Spitzel in einem miesen Film.
Es dauerte nicht lange, und Hilde spürte, daß jemand sie beobachtete.
Sie blieb an einem der nächsten Schaufenster stehen und musterte in der spiegelnden Scheibe aufmerksam ihre Umgebung. Angst beschlich sie. Das heimliche Rendezvous mit Professor Wiegand gab ihr ein schlechtes Gewissen. Niemand war zu sehen, und doch hatte sie das bestimmte Gefühl, daß jemand ihr folgte.
Sie ging schnell weiter, erreichte den Durchgang zum Oskar-von-Miller-Ring. Sie lief unter den Bäumen durch, stellte sich in den Schatten eines Hauseingangs.
Sie wartete. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Schritte näherten sich.
Ein Mann ging vorbei, sah sich suchend um. Fast hätte Hilde vor Überraschung aufgeschrien, als sie Richard erkannte. Mit angehaltenem Atem blickte sie ihm nach.
Richard beobachtete sie; verfolgte sie. Was sie hatte verhindern wollen, war nun doch geschehen; Mißtrauen war in Richard erwacht, Verdacht.
Nach dem ersten Leben meiner unbelasteten Jugend kam das zweite Leben, das von dem schrecklichen Geheimnis überschattet war.
Und nun? Ein drittes Leben, das am Abend
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