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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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lieber einen Schutzhelm tragen, sonst haben Sie bald überall Beulen.“
    Sie musterte mich ernst, schätzte mich ab, und meine allgemeine Erscheinung schien ihrer weiblichen Neugier zu gefallen. Ein schalkhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
    „Sie haben ein Gesicht wie ein etruskischer Tempelgott“, sagte sie. „Wenn man die Maske von links betrachtet, schilt sie einen. Wenn man sie von vorne betrachtet, schaut sie einen erwartungsvoll an, und nachdem man sein Opfer dargebracht hat und geht, sieht die rechte Seite zufrieden aus.“
    Ich hätte sie nach ihrem Opfer fragen sollen. Ihre Beschreibung meines Gesichts gab Anlaß zu dieser Frage, aber ich hielt den Mund, denn ich war an die kapriziöse Art gewöhnt, wie junge Krankenschwestern oder Studentinnen sich mit ihrem Geschlecht brüsten. Sie brachte den Wagen plötzlich zum Stillstand und kurbelte das Fenster herunter.
    „Da oben wohne ich, in dieser Mansarde.“ Ungeduldig steckte sie den Kopf hinaus und starrte ein Haus auf dem Hügel an. Es war ein altes Patrizierhaus, dessen Dach zwei Schrägen hatte, wovon die untere steiler war. „Elbchaussee zweihundertsechsundfünfzig.“
    „Möchten Sie schnell in Ihre Wohnung hinaufgehen?“ fragte ich, da ich nicht wußte, warum sie so abrupt gehalten hatte.
    „Das ist unmöglich“, sagte sie und drehte resolut das Fenster hoch. „Zum Teufel, ich hoffe nur, daß sie nicht die ganze Nacht dazu braucht“, fügte sie mysteriös hinzu und fuhr mit einem Ruck los. „Ich teile die Wohnung mit Helga, die im Kaufhof arbeitet. Heute abend hat sie die Wohnung für sich allein, um ihren Freund zu unterhalten. Sie haben noch Licht brennen, und das sagt alles. Warum lieben sich eigentlich die meisten Leute im Dunkeln?“
    „In diesem Augenblick sind sie am verwundbarsten. Der Feind kann sie nicht sehen. Ein Überbleibsel aus der Steinzeit“, sagte ich, auf ihre Offenheit eingehend. „Ein Atavismus – aber das ändert sich allmählich, oder nicht?“
    Sie antwortete nicht und runzelte die Stirn, als hätte ich an etwas gerührt, das ihr wehtat. Sie riß den Wagen um neunzig Grad herum, raste vor heranbrausenden Autos über die Straße und hielt dann in einer schmalen Seitengasse. Trotz des aufgebrachten Hupens schien ihr nicht bewußt zu sein, daß sie nur mit knapper Not einem jähen Tod entronnen war.
    „Das ist die Elbe“, sagte sie stolz, als zeige sie ihren Privatbesitz. Der graugrüne, von kleinen Wellen gekräuselte Fluß schien eine Flüssigkeit mit sich zu führen, die schwerer als Wasser war. Kräne zeichneten ein Filigranmuster in den gläsernen Himmel, Hochseeschiffe lagen stumm in den Trockendocks wie tote, an Land gespülte Wale. Eine Flotte von Schleppern durchfurchte tuckernd den wie eine Metallschmelze dahin strömenden Fluß.
    „Ich werde mit Ihnen eine Hafenrundfahrt machen, wenn Sie Zeit haben“, bot Astrid an. „Doch jetzt will ich Sie zu Ihrer neuen Unterkunft bringen.“ Flüchtig berührte sie in einer Geste der Vertrautheit meine Hand, ließ den Motor an und überquerte nochmals die Straße mit selbstmörderischem Tempo. Ich wunderte mich, daß Heinemann ihre Fahrerei überlebt hatte. Nachdem wir etwa einen Kilometer gefahren waren, hielt sie an und stellte die Scheinwerfer ab.
    „Das ist die Himmelsleiter, wie sie diese Gasse zur Övelgönne nennen.“ Sie zeigte in die Dunkelheit. „Wir können nicht bis zum Haus fahren.“
    Sie sprang aus dem Auto, öffnete den Kofferraum und hob mit erstaunlicher Kraft meinen großen Koffer heraus. Sie hielt den Griff mit beiden Händen fest, und ihre schlanke Figur bog sich unter dem Gewicht. Ich nahm ihr den Koffer ab und gab ihr den kleineren.
    Wir gingen durch fast völlige Finsternis und ertasteten unseren Weg eine Vielzahl von Stufen hinunter. Der Abhang zum Fluß war mit Bäumen und Büschen gesäumt. Schmale Pfade führten in alle Himmelsrichtungen, dann bot sich wieder die eindrucksvolle Aussicht auf den Fluß. Astrid ging schweigend voran und blieb am Ende der Treppe stehen, eine Silhouette gegen den blassen Himmel. Eine Flamme schoß aus einem hohen Turm am anderen Ufer, verbrannte überschüssiges Gas.
    „Es freut mich, daß wir einander kennengelernt haben“, sagte sie schlicht – ein neuer Schachzug? „Kopf hoch, nur noch hundert Meter und wir sind da“, fügte sie hastig hinzu, um die Intimität ihrer Bemerkung zu verscheuchen.
    Die Treppe mündete in eine Gasse, die zu schmal für jedes Auto war; die eine Seite bestand aus

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