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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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kleinen Häusern, manche mit Balkon, auf der anderen erstreckten sich winzige zu den Häusern gehörende Gärten bis zum Uferrand.
    Die Dunkelheit umgab uns wie schwarzes Glas. Trübe Straßenlaternen warfen matte Lichtkegel auf die Gasse, die mit flachen, von hundertjähriger Benutzung ausgehöhlten Steinen gepflastert war.
    „Övelgönne zweiundsiebzig, falls Sie sich einmal verlaufen sollten“, sagte sie und blieb vor einem winzigen Haus stehen. Ich hätte das Dach berühren können. Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete die Tür. Drinnen brannte schon Licht; sie mußte angenommen haben, daß wir erst nach Einbruch der Dunkelheit eintreffen würden.
    „Passen Sie auf, daß Sie Ihren Kopf nirgends anstoßen“, rief sie, als ich den winzigen Flur mit der niedrigen Decke betrat, von dem aus eine Treppe zum Obergeschoß führte. Das mit Bücherregalen gesäumte Wohnzimmer hatte keine Tür. Die antiken Eichenmöbel waren auf Hochglanz poliert. Eine Stehlampe brannte. Eine winzige Küche grenzte an das Zimmer an. Es gab eine Tür, die, wie ich vermutete, zum Garten führte. Ich stellte meinen Koffer ab und ging zu den Büchern. Es waren vorwiegend deutsche und französische Ausgaben.
    „Manchmal komme ich zum Nachdenken her“, sagte sie. „Es ist eine Welt fern dem Zeitalter der Düsenflugzeuge, des Rauschgifts, der Hetze und Aufregung. Sie ist wirklich gemütlich, finden Sie nicht?“
    „Dr. Heinemann findet eine solche Atmosphäre bestimmt nicht in Brentwood“, sagte ich. „Mein kleines Appartement ist klinisch kahl, bis auf Bücher und eine elektrische Kaffeemaschine. Es wird ihm kaum gefallen, wenn er an dieses Haus gewöhnt ist.“
    „Er wird nicht einmal merken, wie Ihre Wohnung aussieht“, sagte sie. „Dieses Haus hat seine Frau eingerichtet – die ihn verlassen hat“, fügte sie hinzu. „Manchmal frage ich mich, ob er das gemerkt hat – er hat seitdem keinen Stuhl verrückt! Sind Sie verheiratet?“
    „Ich war es“, sagte ich. „Sie ist gestorben.“
    „Waren Sie lange verheiratet?“
    „Nicht besonders lange“, sagte ich ausweichend.
    Ihr Gesichtsausdruck nahm den einer leblosen Puppe an, und ließ ihre Augen erlöschen. Sie schaute mich an, ohne mich zu sehen.
    „Ich habe vergessen …“ sagte sie. „Ich werde es schnell holen.“
    „Was denn?“ fragte ich, etwas verwirrt von dem chamäleonartigen Wechsel ihres Ausdrucks.
    Sie rannte ohne eine Erklärung hinaus; ich erkundete indessen meine neue Behausung.
    Die kleine Küche hatte eine Nische. Ein winziges Gewächshaus wurde durch eine zweigeteilte Tür vom Haupthaus getrennt. Eine Falltür und eine Treppe führten in einen Keller, dem eisige Luft entströmte.
    Ich trug meinen Koffer hinauf in ein getäfeltes, L-förmiges Zimmer mit zwei schmalen Betten. Ein kleines, aber hypermodernes Badezimmer mit blitzenden rostfreien Stahlinstallationen lag daneben. In die Wände waren Glassteine eingelassen; eine Wand folgte der Schräge des Daches.
    Ich wusch mich, zog mir ein frisches Hemd und einen anderen Anzug an, wodurch ich den abgestandenen Reisegeruch hinter mir ließ, und ging dann wieder nach unten. Zwischen den wenigen Gemälden an den Wohnzimmerwänden bemerkte ich einen verfärbten Fleck auf der Täfelung: die Umrisse eines abgenommenen Bildes. Stiche von Schiffen aus dem 19. Jahrhundert, ein großer Feldstecher, eine Ansammlung von Thermometern und Barometern jeglicher Form und jeglichen Alters schufen die Atmosphäre einer Kapitänskajüte – ein Eindruck, den die vom Fluß herüberdringenden Geräusche noch verstärkten – das Stakkatogeknatter der Schlepper, das Getucker kleinerer Boote und das gedämpfte Tuten der in See stechenden Schiffe.
    Dann erblickte ich den dünnen Draht. Er hatte die Farbe der Wandtäfelung, die der Maserung dunklen Eichenholzes entsprach. Er führte zu dem Bild eines kahlköpfigen Uniformierten mit großem Schnurrbart. Seine hervortretenden Augen, die offensichtlich von einer chronischen Schilddrüsenstörung herrührten, starrten mich tadelnd an. Die Uniform des Mannes war mit Orden besät, wie die eines russischen Generals. Ich nahm das Bild von der Wand. Es mußte dort schon lange gehangen haben, denn das Rechteck des Holzes darunter war dunkler geblieben. Der Draht verschwand an einer Stelle, die hohl klang und die mit einem sich in staubartige Flocken auflösenden Holzkitt bedeckt war. Ich holte ein Messer aus der Küche und kratzte den Holzkitt ab. Darunter war ein

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