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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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irgendwoanders hin zu gehen. Schweden verlassen ist gleichbedeutend mit Freiheit. Ein Amerikaner betrachtet es als Selbstverständlichkeit, unbegrenzte Möglichkeiten zu haben. Das ist in Europa nicht der Fall. Ich möchte gern nach Amerika. Ich habe Joseph beneidet, als er hinfuhr.“
    „Heinemann? Hätten Sie ihn denn nicht begleiten können?“ Ich versuchte, mir ihre Beziehung vorzustellen. Offensichtlich war es eine enge, denn warum hätte er sie sonst gebeten, meine Fremdenführerin zu sein?
    „Joseph war zwischen Seiten wissenschaftlicher Abhandlungen begraben. Nicht er fuhr nach Kalifornien – sondern seine Abhandlungen. Er sieht Schönheit nur in einem Reagenzglas oder im binomischen System. Ich lebe gern gefährlich.“
    „Das tun Sie jedenfalls beim Fahren“, sagte ich, als sie eine Kurve nahm, ohne das Tempo zu vermindern, und zwar auf nur zwei Rädern. „Und mir scheint, daß wir verfolgt werden.“
    Sie schaute in den Rückspiegel. Der Fiat war, von einem Mann gesteuert, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, dicht hinter uns.
    „Mädchenbegaffer“, sagte sie gelangweilt. „Ich bin daran gewöhnt.“ Sie schaltete das Radio ein. Rock-Musik erklang monoton aus dem Lautsprecher über dem Rücksitz.
    „Folgt man Ihnen oft?“ fragte ich.
    „Für Mädchen am Steuer gibt es keine Schonzeit. Der da jagte mich schon bis zum Flughafen. Er beobachtete, wie ich Sie mitnahm, und hofft, daß ich Sie irgendwo absetze, dann wird er einspringen.“
    Ihre Erklärung klang wenig überzeugend und beunruhigte mich. Es war unlogisch, daß irgend jemand ein Mädchen beharrlich verfolgte, das er nicht kannte und das sich in Gesellschaft eines Mannes befand.
    „Alsterchaussee“, rief sie. „Ich nehme diese Straße, weil sie an der Klinik vorbeiführt. Möchten Sie sie besichtigen?“
    „Ich möchte meine Schuhe ausziehen“, sagte ich, da mich meine geschwollenen Knöchel immer noch plagten.
    „Ich habe ganz vergessen, daß Sie elf Stunden in der Luft waren.“
    „Ja, und die sind meinen Beinen nicht gut bekommen“, sagte ich und drehte den Spiegel so, daß ich den Wagen, der uns folgte, beobachten konnte.
    „Er ist Ihnen lästig. Na dann wollen wir ihn eben abschütteln“, sagte Astrid. Sie drückte das Gaspedal herunter, überfuhr eine Verkehrsampel und ließ den Fiat an einer Ecke hinter sich.
    „Sie sind noch nie in Hamburg gewesen?“ fragte sie beiläufig. „Es ist zwar eine Großstadt, aber eine provinzielle und langweilige. Deutschland hat keine Weltstädte wie London oder Paris. Berlin war aufregend, aber jetzt stirbt es an zu vielen alten Leuten. Die Jungen ziehen fort. Es fehlt an Platz – und alle naselang stößt man auf eine Grenze. Ich bin per Anhalter durch Frankreich gefahren. Niemand ist mir zu nahe getreten. Soviel ich weiß, gehen die Leute in Amerika abends nicht aus, weil sie Angst haben, überfallen zu werden.“
    Sie redete so, als hätte ich ihr Fragen gestellt. Als ich nichts auf ihre letzte Bemerkung erwiderte, wurde ihr deutlich, daß mir nicht nach Reden zumute war. Der Arzt in mir diagnostizierte die Situation – sie betraf nicht mich, sondern meinen Patienten – und das war wiederum ich selbst. Ich war nach Hamburg gekommen, um Leuten aus dem Wege zu gehen, aber sie plauderte so weiter, als hoffte sie, mich geselliger zu machen.
    „Sternschanze“, belehrte sie mich, als der Verkehr dichter wurde und sie zwang, langsamer zu fahren. „Ich fahre lieber nicht durch das Stadtzentrum. Wir sparen Zeit, wenn wir einen Umweg machen.“
    Der Fiat war verschwunden.
    „Joseph Heinemann würde Ihnen gefallen“, sagte sie und warf mit einem Ruck ihr Haar zurück, wodurch sie ihr Gesicht enthüllte, als höbe sich ein Vorhang. Es war ein aufgewecktes und fröhliches Gesicht. „Er ist genau wie sein Haus.“
    „Er ist genau wie sein Haus?“ Es war ihr gelungen, mich neugierig zu machen.
    „Klein, altmodisch, traditionsbewußt, eine Art Meilenstein in der Klinik. Alles ändert sich, außer Heinemann und sein Haus. Es ist eine historische Hütte in Övelgönne, dem Viertel, in dem Lotsen und Schiffer im Ruhestand sich vor zweihundert Jahren ihre Behausung bauten. Als Joseph sie erwarb, hing das Dach durch, aber die Mauern waren in Ordnung. Er ließ das Äußere so, wie es war, erneuerte das Dach und restaurierte das Innere stilgetreu bis auf moderne Bequemlichkeit wie warmes Wasser und ein anständiges Badezimmer. Zu ihm paßt es, aber Sie sind einen Meter achtzig und sollten

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