Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
lehnte mich dort so weit entfernt wie möglich von diesem Ding an die Wand. Ich hatte mir das Buch doch vorher ganz genau angesehen. Diese vollgeschriebenen Seiten konnte ich gar nicht übersehen haben, das war absolut unmöglich. Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus und zog es an einer spitzen Ecke zu mir herüber. Langsam schlug ich es auf und blätterte dann das weiße Vorsatzpapier um. Auf der nächsten Seite fand ich diese Worte geschrieben:
Sei stark, Himmelsbotin.
Und darunter:
Und hüte dich vor dem Schönen.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Aber jetzt konnte ich nicht mehr aufhören. Also blätterte ich von der seltsamen Widmung weiter zu einer Seite, die komplett mit dieser unordentlichen, runden Schrift bedeckt war. Sie sah fast so aus wie meine eigene. Auf dem Blatt stand oben rechts das Datum von heute. Ich zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und begann zu lesen:
Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag. Du bist jetzt 16, und große Veränderungen bahnen sich in deinem Leben an. Noch ahnst du nicht, in was du dich einst verwandeln wirst; du kannst zur Legende werden. Noch fühlst du dich schwach, aber bald wirst du trunken sein vor Einfluss und Macht, wirst staunen, welche Stärke und Kraft in dir stecken. Aber hör auf meine Worte, Haven …
Ich konnte nicht fassen, dass der geheimnisvolle Schreiber tatsächlich meinen Namen nannte. Aber ich zwang meinen Blick zurück auf die Seite. Mein Puls raste, und ich las mit der Hand vor dem Mund weiter:
Du hast nun so einiges zu lernen. Und zwar schnell, denn du schwebst in Gefahr.
Ich zog die Knie noch enger an die Brust und versuchte mich zu beruhigen. Das war offensichtlich irgendein seltsamer Scherz – vielleicht steckte Dante dahinter, er machte sich bestimmt über mich lustig, weil ich immer so übervorsichtig war und alles mit einem Ernst in Angriff nahm, als ginge es um Leben oder Tod. Aber die Schrift war nicht so ordentlich und sauber wie seine, sie war nicht so lebendig und sprudelnd. Trotzdem hätte ich am liebsten genau in diesem Augenblick an seine Tür gehämmert und ihn geweckt, Lance geweckt, meinetwegen das ganze Stockwerk geweckt, oder was auch immer ich tun musste, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich konnte den Blick einfach nicht abwenden.
Du bist eine kluge junge Frau, Haven, und fragst dich nun sicher, was es mit diesem Buch und der Schrift auf sich hat. Du musst mir vertrauen. Um dir zu beweisen, wie vertrauenswürdig ich bin, werde ich dir Dinge verraten, die sonst niemand weiß. Zunächst einmal: Du hast drei Narben, bestehend aus jeweils drei Streifen. Eine davon trägst du über dem Herzen, zwei auf dem Rücken.
Ich atmete aus. Gut, beruhigte ich mich selbst. Das ging ja tatsächlich ganz schön ins Detail. Das wussten wirklich nicht viele Leute über mich, aber einige schon – Dante, Joan, das ganze Krankenhaus und jeder, der mich beim Sportunterricht in der Umkleide beobachtet hatte. Ich las weiter:
Außerdem stechen und brennen diese Narben bei Angst oder Nervosität.
Das hingegen hatte ich noch nie jemandem erzählt. Meine Finger begannen zu zittern, ich ballte die Hände zur Faust, öffnete sie dann wieder und schüttelte sie aus. Aber es stimmte. Das passierte zwar nicht häufig, aber wie oft am Tag hat man schon wirklich Angst? Mit so einer überfürsorglichen Mutter gab es ja kaum Gelegenheiten, sich richtig zu fürchten. Eine unsichere Zukunft, die Befürchtung, auf keinem guten College angenommen zu werden oder seinen SAT -Test zu verhauen – so etwas ging in meiner Welt als Angst durch, und das zählte nicht. Das war nicht die hier gemeinte Art von lähmender Angst. Bei dem wahren Grauen, das sich nun langsam bei mir einzuschleichen drohte, handelte es sich um ein ganz anderes Monster. Und es ging noch weiter:
Ich weiß auch, woher die Narben stammen und welchen Zweck sie einst erfüllen werden. Ich weiß vieles, das du nicht einmal über dich selbst weißt. Noch ist der Zeitpunkt für diese Enthüllungen nicht gekommen. Jetzt musst du mir einfach vertrauen. Davon wird dein Leben abhängen, und du darfst nicht darüber sprechen, kein Sterbenswörtchen verraten.
Das war alles.
Mit einem Keuchen klappte ich das Buch zu und schleuderte es unwillkürlich quer durch den Raum. Mit einem dumpfen Laut knallte es gegen die Schranktür und fiel zu Boden.
Ich brauchte Sonne. Ich brauchte Licht und Luft und Menschen um mich herum, eine frische Brise, die diese seltsamen
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