Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
den Regalen waren mehr Schuhe – mit riesigen, haushohen Absätzen – aufgereiht, als ein einziger Mensch jemals tragen konnte.
»Hast du ihn gefunden, Haven?«, rief Aurelia durch die Tür. Rasch schlüpfte ich aus meiner Uniform und ließ sie einfach auf dem Fußboden liegen.
»Ja, hier ist er ja schon«, antwortete ich und nahm das Kleidungsstück aus dünnem Stoff vom Haken. Es roch nach ihr, genau wie Lucians würzige Blume. Ich band mir den Mantel um, dessen Satinmaterial sich auf der Haut kühl anfühlte.
Als ich ins Zimmer zurückkehrte, hatte Aurelia bereits einen Kamm und eine Sprühflasche in der Hand. Sie deutete auf den Hocker, auf dem ich schweigend Platz nahm, und dann drehte sie mich zu sich um, vom Spiegel weg.
»Schönheit«, erklärte sie, umfing mein Kinn mit der Hand und sah mich prüfend an, »ist eine Form von Genialität. Meinst du nicht auch?«
»Sicher«, behauptete ich, obwohl ich gar nichts verstand. Für mich waren Genies eben geniale Menschen – Nobelpreisträger, Hirnchirurgen oder Künstler. Aber Schönheit an sich? Schön zu sein? Das war ja nicht einmal eine Tätigkeit, sondern völlig passiv. Und Genialität war niemals passiv. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ich da jetzt widersprechen sollte. »Wahrscheinlich.«
»Durch Schönheit kann man alles erreichen, und zwar immer und immer wieder«, fuhr sie fort. Sie befeuchtete mein Haar mit der Sprühflasche, gab einen Klacks Gel darauf und verteilte es, dann fuhr sie mit dem Kamm hindurch und scheitelte es auf der Seite – nicht in der Mitte, wie ich es sonst trug. Sie glättete mein feuchtes Haar mit den Zinken, und dann schien sie es mit den Fingern in Wellen zu legen, die sie gegen die Kopfhaut presste. »Schönheit ist das ultimative Mittel der Manipulation. Durch sie kann man sich so vieles erlauben. Schönheit zieht Menschen an, weil jeder hofft, dass sie auf ihn abfärbt. Sie ist mächtig, wenn man damit richtig umzugehen weiß.« Nachdem sie mit den Wellen fertig war, griff sie nach einer dicken Strähne und wickelte sie um einen breiten Lockenstab.
»Die größte Sünde ist nicht, sie sich zu Nutze zu machen, sondern vielmehr keine Ahnung zu haben, wie man sie am besten einsetzt.« Sie befeuchtete mein Haar wieder und wickelte nun ein weiteres Büschel auf. Ich fragte mich, ob sie das wohl ganz allgemein feststellte oder mich damit meinte. Wenn es hier um mich ging, konnte ich mich zumindest geschmeichelt fühlen – es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ich schön genug war, um irgendjemanden zu manipulieren. Und vermutlich war genau das mein Problem. »Ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass du mit so einigem durchkommen könntest, wenn du nur wolltest.« Bei diesen Worten suchte mein Blick automatisch den ihren. Sie sah mich erst an, als sie den Lockenstab wieder abgesetzt hatte. Mit flinken Fingern verdrehte sie mein Haar und steckte es dann zu einem tiefen, seitlichen Knoten zusammen. Vielleicht wartete sie ja darauf, dass ich noch etwas erwiderte. Und das wollte ich auch. Ich hätte so gerne noch mehr darüber gewusst. Aber eines hatte mir dieses Praktikum im Lexington nur zu deutlich gezeigt – ich war nicht wie die Leute hier. Ich hatte sie nach bestem Wissen analysiert und studiert, um ihr Geheimnis zu ergründen. Aber ich glaubte kaum, dass ich da irgendwie rankommen konnte.
»Tatsächlich?«, fragte ich endlich. Aurelia ließ die Hände einen Moment auf meinem Scheitel ruhen und fuhr dann fort, bändigte einzelne Strähnen und steckte schließlich alles eng am Kopf fest.
»Oh ja«, versicherte sie. Diese Idee gefiel mir. Ich ließ sie mir durch den Kopf gehen und beleuchtete sie von allen Seiten. In Gedanken sah ich mich schon auf einer Höhe mit diesen Lichtgestalten, ich benahm mich so wie sie, bewegte mich mit derselben Eleganz und strahlte diese verführerische Abgeklärtheit aus, die all die Blicke und die Bewunderung mit sich bringen. Sie ahnte wohl, was mir durch den Kopf ging. »Aber dafür muss man sich bewusst entscheiden«, fuhr sie fort. »Dazu musst du dich uns völlig hingeben und uns vertrauen.« Sie sah mir direkt in die Augen. Dann griff sie nach einer Puderdose und fuhr mir mit einem plusterigen Pinsel über die Wangen.
»Oh?« Tat ich das nicht längst? Irgendwie wollte ich mich jetzt gerne verteidigen, ohne gleich beleidigt zu klingen. »Ich möchte Ihnen so gerne beweisen, dass ich alles daransetze, meine Sache gut zu machen.« Sie wandte mir den Rücken zu, um ihr
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