Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
mich jeden Tag zu versetzen«, erklärte er, als wir durch die Lobby gingen, in der sich inzwischen die Frühaufsteher auf ihrem Weg zum Morgenkaffee im Capone tummelten.
»Ich glaube, er hat einfach nur viel zu tun«, verteidigte ich ihn. Ehrlich gesagt war ich aber auch enttäuscht, weil heute noch niemand was von Lucian gehört hatte. Gestern Abend hatte ich noch daran geglaubt, dass er sich wirklich für mich interessierte, aber diese Überzeugung war in den letzten Stunden kläglich geschrumpft.
»Egal, ich habe bei diesem Typen jedenfalls ein ganz merkwürdiges Gefühl.« Lance sah mich schon wieder so vorwurfsvoll an wie am Abend zuvor.
Das ignorierte ich einfach und zog am Eingang zur Galerie meine Schlüsselkarte durch. »Also, lassen wir die Tür jetzt offen, damit die Leute hereinschauen können?«, überlegte ich, um das Thema zu wechseln.
»Es ist schon komisch, wie viel hier plötzlich los ist. Das kommt mir so vor, als hätte irgendwer eine Ameisenfarm fallen lassen, und jetzt wuseln die Viecher überall rum.«
»Ich weiß, was du meinst. Wir sind wohl nicht die besten Gastgeber, was?«
»Wohl eher nicht.«
»Okay, dann geben wir uns doch mal ganz gastfreundlich und lassen die Tür offen«, beschloss ich. Ich schob sie weit auf und zog den Vorhang zurück.
Wir fanden die erwähnten Zeitungsartikel und noch viele weitere online. Da gab es etliche Bilder von Aurelia und Lucian und dem Syndikat und zahllose Aufnahmen von tanzenden, trinkenden Partygästen. Auf einem Foto entdeckten wir sogar Dantes Hand, die ein Tablett mit Canapés festhielt (ich erkannte ihn an der Uniform und der Uhr). Lance verschwand kurz, um die Ausschnitte auf den Bildschirm vorn zu laden. Das war eigentlich eine einfache Aufgabe, um die ich ihn aber trotzdem nicht beneidete, weil er dafür den Computer eines Syndikat-Mitglieds an der Rezeption in Beschlag nehmen musste. Diese Leute hatten noch immer nicht viel für ein Schwätzchen übrig. Wenn Raphaella da war, würde die Sache jedoch ganz anders aussehen, oder? Warum Lance nie über sie reden wollte, war mir allerdings ein Rätsel. Man hätte doch meinen können, dass die meisten Kerle bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit herumprotzen würden, wenn so eine Sexbombe ihnen Aufmerksamkeit schenkte.
Wie auch immer, ein paar Minuten hatte ich das Büro für mich allein. Ich sah mir den Gruß an, den Aurelia in ihrer eleganten Handschrift mit den weiten Bögen zu Papier gebracht hatte. Die nachzuahmen würde gar nicht so einfach werden. Ich studierte den Schwung der einzelnen Buchstaben, die schlanke Rundung des As, den Giraffenhals des kleinen Ls, die exakte Neigung jedes einzelnen Wortes. Dann holte ich mir ein Blatt Papier aus dem Drucker, um erst einmal zu üben. Dabei sagte ich mir das Gleiche wie immer: Mach’s lieber langsam, aber dafür vernünftig. Es gefiel mir, mich zurückziehen zu können, hier mein eigenes kleines Büro zu haben, in dem ich mich meinen Aufgaben widmen, die Dinge in meinem eigenen Tempo erledigen konnte. Dieses Kämmerchen wurde von allen als mein kleines Reich angesehen, wie jetzt ein Klopfen an der Tür bewies.
Ich fuhr auf meinem Stuhl herum und entdeckte auf der Schwelle Lucian, der wieder einmal in einem schmal geschnittenen Anzug steckte. Unter dem Arm trug er meine gefaltete Uniform, die ich in Aurelias Schrank zurückgelassen hatte.
»Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde«, meinte er, kam unaufgefordert herein und lehnte sich an die Schreibtischkante. Ganz nah bei mir. Ich versank in diesen grauen Augen und suchte darin nach einem Zeichen, dass er mich heute irgendwie anders ansah – als hätten wir eine Grenze überschritten und ganz neues Terrain betreten, in dem es zum Beispiel völlig in Ordnung wäre, mich aus keinem besonderen Grund und ohne jede Vorwarnung noch einmal leidenschaftlich zu küssen.
»Hey.« Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich immer noch so aussah wie gestern Abend, und mich zu benehmen wie eine junge Frau, die – erfolgreich – mit diesem Typen geflirtet hatte. »Verstehe.« Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf die Uniform in seiner Hand, die er offensichtlich ganz vergessen hatte. »Du bist eifersüchtig, weil du selbst keine hast, stimmt’s? Ich kann sie dir gern mal leihen, ich habe noch mehr davon. Aber ich fürchte, dir steht der Schnitt nicht so gut.«
Er lächelte. »Die hier«, sagte er und reichte mir meine Dienstkleidung, »ist von Aurelia. Sie meinte, dass du sie bei
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