Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
konnte einfach nicht widerstehen, also zog ich los, um mir noch einmal La Jeune Martyre anzusehen.
Auf dem Weg zur Monroe-Street-Station, an der wir für unsere letzte Lieferung die L nehmen wollten, blieb uns fast die Luft weg, als uns der peitschende Wind traf. Wir hatten mit unseren behandschuhten Händen Schwierigkeiten, die Karte durchzuziehen, gingen dann gleichzeitig durch das Drehkreuz und traten schließlich auf den Bahnsteig hinaus. Warum baute so eine kalte Stadt eigentlich den Großteil ihres Transportsystems draußen und nicht unterirdisch? Das hatte ich mich seit jeher gefragt.
Lance konnte immer noch nicht fassen, dass ich mir dieses Gemälde noch einmal hatte ansehen müssen.
»Was ist das nur mit dir und diesem Ding?«, fragte er und lehnte sich vor, um einen Blick in den Tunnel zu werfen. In diesem Moment kündigte ein Windstoß den herankommenden Zug an. Die Scheinwerfer näherten sich, und dann fuhr er mit ohrenbetäubendem Dröhnen ein. Ich wartete mit meiner Antwort, bis er ganz zum Stehen gekommen war, weil mich Lance bei dem Lärm sowieso nicht verstanden hätte.
»Passiert dir das nie? Dass du plötzlich von irgendwas total besessen bist und es dir nicht mehr aus dem Kopf geht?«
»Doch, sicher. Bei mir dreht sich doch alles nur um Mathe, Ingenieurwesen, Architektur und allgemein um Naturwissenschaften, auch wenn ich es so gut wie möglich vertusche. Das ist nämlich alles nicht so cool wie Kunst. Also, bleib ganz locker.«
»Schon verstanden. Aber das fühlte sich so … das klingt jetzt sicher verrückt, aber …« Es musste einfach raus: »Es fühlte sich irgendwie vertraut an.«
»Wie meinst du das?«
Der Zug ratterte durch die Tunnel, fuhr immer weiter hinauf und rüttelte uns dabei tüchtig durch. Ich überlegte, wie viel ich ihm verraten wollte, und dachte dann: Was soll’s?
»Na ja, man hat sie halbtot an diesem seltsamen Ort zurückgelassen … und so was in der Art ist mir wohl auch passiert, als ich klein war.«
»Warte mal.« Er sah mich besorgt an. »Das warst du?«
In meinen Augen stand offensichtlich Was soll das denn heißen? geschrieben.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf – so sollte das wohl nicht klingen. »Nein, ich meine, als wir kleine Kinder waren, haben wir immer diese Geschichte von dem Mädchen in unserem Alter gehört, das im Wald gefunden wurde. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass du das warst.«
»Ja, das war damals bestimmt eine große Sache. Aber inzwischen wissen nicht mehr viele Leute davon. Joan hat mich bei sich aufgenommen, und wir haben quasi vereinbart, darüber Stillschweigen zu bewahren. Als ich mit der Schule angefangen habe, haben sie meine Identität geheim gehalten, und irgendwann hat wohl niemand mehr darüber gesprochen.«
Lance’ braune Augen sausten hin und her und musterten mich hektisch. Es sah aus, als hätte er tausend Fragen, wüsste aber gar nicht, wo er anfangen sollte.
»Und stammen daher auch die – du weißt schon.« Er legte sich die Hand aufs Herz, an der Stelle, an der ich die Narben hatte.
»Ich weiß es nicht. Die hatte ich schon, als ich gefunden wurde, vermutlich also ja.« Ohne darüber nachzudenken zog ich den Reißverschluss an meinem Mantel höher, dann aber überkam mich ein Schaudern. Was hatte ich mir gestern Abend nur dabei gedacht, ihm die Narben zu zeigen? Aber in diesem Kleid, mit all dem Schmuck, dem Make-up und der tollen Frisur war ich eben viel mutiger gewesen als sonst. Innerhalb der Hotelmauern war ich wohl ein ganz anderer Mensch.
»Na ja«, fuhr Lance fort und zupfte an der Lehne vor uns herum. »Nur, damit du’s weißt … ich finde die ziemlich cool.«
»Danke.« Ich wurde rot. Es war das merkwürdigste Kompliment, das ich je bekommen hatte, und trotzdem eins der schönsten. »Ich deine auch.« Ich deutete mit dem Handschuh auf sein Auge.
Er nickte nur, und ein kurzes Lächeln flackerte bei ihm auf. Dann schwiegen wir den Rest der Fahrt über.
Der Letzte auf der Liste lag weitab vom Schuss, es handelte sich um einen Blogger in einem Bürogebäude an der Grand Avenue, ganz in der Nähe des Navy Pier, einem Kai voller Vergnügungsparks, Geschäften und generellem Touristenschnickschnack, der sich wie ein Speer in den Lake Michigan bohrte. Nachdem wir die letzte Pralinenschachtel abgegeben hatten und endlich die Hände frei hatten, beschlossen wir, noch ein paar Blocks weiter zu schlendern.
Hier draußen zu sein rief mir in Erinnerung, dass es da ja noch eine Welt jenseits der
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