Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
offensichtlichen Stellen im devant-huis ab.
    »Vielleicht hat Jacob ihn aus Versehen mitgenommen«, meinte ich. »Wir waren alle sehr aufgeregt gestern. Es wäre gut möglich.« Ich fühlte mich irgendwie erleichtert, daß ich das alles doch nicht würde durchziehen müssen.
    Lucien sah sich die winzigen Fenster neben der Türe an; ihre zerbrochenen Scheiben würden sich leicht eindrücken lassen, aber keiner von uns würde durchpassen. Die Fenster an der Vorderseite des Hauses waren auch klein und hoch oben. Er nahm mir die Taschenlampe ab. »Ich werde mich hinten nach einem größeren Fenster umsehen«, sagte er. »Kannst du hier allein warten?«
    Ich zwang mich, zu nicken. Er ging gebückt aus dem devant-huis hinaus und verschwand um die Ecke. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und schlang die Arme fest um den Oberkörper, um nicht zu zittern. Ich horchte. Zuerst hörte ich nur den Regen; nach kurzer Zeit traten auch andere Geräusche hervor – der Verkehr auf der Hauptstraße unter uns, das Pfeifen eines Zuges –, und ich fühlte mich ein wenig getröstet, daß die normale Welt so nahe war.
    Ich hörte etwas aus dem Inneren des Hauses, das wie ein Schrei klang, und fuhr hoch. »Es ist nur Lucien«, versuchte ich mich zu beruhigen, trat aber trotzdem in den Garten hinaus, mitten in den Regen hinein. Als Licht durch das Fenster neben der Tür fiel und ein Gesicht erschien, stieß ich einen Schrei aus.
    Lucien winkte mich zu dem Fenster und reichte mir die Taschenlampedurch die eingedrückte Scheibe. »Komm zum hinteren Fenster.« Er verschwand, bevor ich ihn fragen konnte, ob er in Ordnung war.
    Hinter dem Haus war es schlammig; ich mußte mir einen Weg zwischen den Pfützen hindurch suchen. Als ich das offene Fenster und Luciens dunklen Umriß im Innern sah, ging ich zu schnell vorwärts, stolperte und fiel auf die Knie.
    Er lehnte sich hinaus. »Alles klar mit dir?« fragte er.
    Staksig stand ich wieder auf, während der Lichtstrahl der Taschenlampe wild herumtanzte. Die Knie meiner Hosen hatten zwei Schlammkreise aufgesogen. »Ja. Alles prima«, murmelte ich und schüttelte die Hosenbeine, um soviel Schlamm wie möglich loszuwerden. Ich gab ihm die Taschenlampe, die er auf den Fenstersims gerichtet hielt, während ich hineinkletterte.
    Drinnen war es kalt – es schien sogar kälter als draußen. Ich schob mir die nassen Haarsträhnen aus den Augen und sah mich um. Wir befanden uns in einem winzigen Raum im hinteren Teil des Hauses, einem Schlafzimmer oder einer Vorratskammer, der außer einem Holzstapel und ein paar zerbrochenen Stühlen leer war. Es roch modrig und feucht, und als Lucien die Taschenlampe auf die Decke und in die Ecken richtete, sahen wir Spinnweben im Zug des offenen Fensters flattern. Er drückte es zu; der Rahmen gab das kreischende Geräusch von sich, das ich vor ein paar Minuten gehört hatte. Ich wollte ihn beinahe bitten, es wieder aufzumachen, um einen Fluchtweg freizuhalten, hielt mich aber gerade noch zurück. Es gibt hier nichts, wovor man weglaufen müßte, sagte ich mir fest, während mein Magen Purzelbäume schlug.
    Er ging voran zum großen Raum, stellte sich neben den Herd und beleuchtete den Kamin mit der Taschenlampe. Lange betrachteten wir ihn schweigend.
    »Eindrucksvoll, nicht?« sagte ich.
    »Ja. Ich habe mein ganzes Leben in Moutier gewohnt und oft von diesem Kamin gehört, aber gesehen habe ich ihn noch nie.«
    »Als ich ihn gestern gesehen habe, war ich völlig überrascht, daß er so häßlich ist.«
    »Ja. Wie diese ruches , die ich mal im Fernsehen gesehen habe. Aus Südamerika.«
    » Ruches? Was ist eine ruche ?«
    »Ein Haus für Bienen. Du weißt schon, wo sie Honig machen.«
    »Oh, ein Bienenstock. Ja, ich weiß, was du meinst.« Irgendwo, wahrscheinlich im ›National Geographic‹, hatte ich die hohen, klumpigen Bienenstöcke gesehen, von denen er sprach, die aus einer Art grauen zementartigen Masse bestanden, häßlich, aber funktionell. Das Bild von einem der verfallenen Höfe in den Cevennen schoß mir durch den Kopf: Der perfekt gesetzte Stein, die elegante Linie des Kamins. Dies hier war nichts dergleichen; das war von Leuten gemacht worden, die unbedingt irgendeinen Kamin wollten, egal in welcher Form.
    »Es ist merkwürdig, weißt du«, sagte er und starrte den Herd und den Kamin an. »Sieh dir seine Position im Verhältnis zum Rest des Raumes an. Er ist nicht da, wo man einen Herd normalerweise erwarten würde. Er teilt den Raum nicht so auf, wie

Weitere Kostenlose Bücher