Das dunkelste Blau
Wissen Sie, die Mauern sind einen Meter dick.«
»Wirklich?«
Lucien fing an, detailliert zu erklären, wie ein Schutzkeller gebaut wurde. Ich schloß die Augen. Was für ein Langweiler, dachte ich. Warum um Himmels willen habe ich mir gerade den als Helfer ausgesucht?
Es gab sonst niemanden. Jacob war noch zu erschüttert von Susannes Fehlgeburt am Tag zuvor, als daß er hätte zum Hof zurückgehen können, und Jan würde niemals etwas Regelwidriges tun. Noch so ein Schwächling, dachte ich wütend. Was ist bloß mit diesen Männern los? Ich wünschte mir wieder, daß Jean-Paul hier wäre: Er würde mit mir über den Sinn meines Vorhabens streiten, er würde fragen, ob ich noch ganz bei Trostsei, aber er würde zu mir stehen, wenn er wüßte, daß es mir wichtig war. Ich fragte mich, wie es ihm ging. Diese Nacht schien so lange zurückzuliegen. Eine Woche.
Er war nicht hier; ich mußte mich also auf den Mann vor mir verlassen. Abrupt öffnete ich die Augen und unterbrach Luciens Monolog. » Ecoute , ich möchte, daß du mir hilfst«, sagte ich fest und wechselte absichtlich zur vertrauten Anrede. Bis jetzt hatte ich darauf bestanden, die Höflichkeitsform zu verwenden.
Lucien schloß den Mund und sah überrascht und mißtrauisch aus.
»Kennst du den Hof in der Nähe von Grand Val mit dem alten Kamin?«
Er nickte.
»Wir sind gestern hingegangen, um ihn uns anzusehen. Er gehörte einmal meinen Vorfahren.«
»Wirklich?«
»Ja, und ich muß dort etwas holen.«
»Was?
»Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich und fügte schnell hinzu, »aber ich weiß, wo es ist.«
»Wie kannst du wissen, wo es ist, wenn du nicht einmal weißt, was es ist?«
»Ich weiß nicht.«
Lucien sah eine Weile in sein leeres Whiskeyglas. »Was soll ich also tun?« fragte er dann.
»Komm mit mir zum Hof, und wir können uns dort umsehen. Hast du Werkzeug?«
Er nickte. »Im Laster.«
»Gut. Wir brauchen vielleicht welches.« Er sah alarmiert aus, und ich fügte hinzu: »Keine Angst, wir brauchen nicht einzubrechen oder so – es gibt einen Schlüssel, der ins Türschloß paßt. Ich will mich nur umsehen. Hilfst du mir?«
»Du meinst jetzt? Jetzt gleich?«
»Ja. Ich will nicht, daß irgend jemand weiß, daß ich hingehe, also muß es nachts sein.«
»Warum willst du nicht, daß jemand davon weiß?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich will nicht, daß die Leute Fragen stellen. Und reden.«
Es war lange still. Ich bereitete mich auf sein »Nein« vor.
»Okay.«
Als ich lächelte, gab Lucien ein zögerndes Lächeln zurück. »Weißt du, Ella«, sagte er, »das ist das erste Mal heute abend, daß du lächelst.«
Es fing an zu regnen, als Isabelle zum Wald kam. Die ersten Tropfen fielen durch die frischen Blätter an den Birken, schüttelten sie sanft und füllten die Luft mit einem sanften, rauschenden Geräusch. Ein moschusartiger Duft stieg aus der feuchten Mischung von abgefallenen Blättern und Kiefernnadeln auf.
Sie kletterte den Hang hinter dem Haus hinauf und rief ab und zu Maries Namen, aber noch öfter blieb sie stehen und horchte auf die Geräusche hinter dem Regen: Schreiende Krähen, der Wind, der weiter oben am Berg durch die Kiefern strich, Pferdegetrappel auf dem Pfad in Richtung Moutier. Sie glaubte nicht, daß Marie sich weit entfernt hatte – sie war nicht gerne allein oder weg von zu Hause. Aber sie war auch noch nie vor so vielen Leuten bloßgestellt worden.
Alles wegen deines Haars, dachte Isabelle, und weil du meine Tochter bist. Sogar hier. Aber ich habe keine Zauberkraft, mit der ich dich beschützen könnte, nichts, womit ich dich vor der Kälte oder vor der Dunkelheit bewahren könnte.
Sie stieg weiter hinauf, kam an einen Felskamm und wandte sich nach Westen. Sie wußte, daß sie von einem besonderen Ort angezogen wurde. Dann erreichte sie die kleine Lichtung, wo sie und Jacob den Sommer über die Ziege gehalten hatten. Sie war nicht mehr hierher zurückgekommen, seit Jacob die Ziege gegen das Tuch eingetauscht hatte. Sogar jetzt gab es noch ein paarAnzeichen dafür, daß hier ein Tier gehalten worden war: Die Überreste einer Hütte aus Ästen, ein zerfetztes Polster aus Stroh und Kiefernnadeln und Kot, der zu harten Kügelchen getrocknet war.
Und ich dachte, daß ich es so geschickt angefangen hätte mit meinen Geheimnissen, dachte Isabelle niedergeschlagen, als sie vor der Lagerstätte der Ziege stand. Daß es nie jemand erfahren würde. Es schien ihr so lange her zu sein. Es war einen Winter
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