Das dunkelste Blau
her.
Da sie schon den einen geheimen Platz besucht hatte, wußte sie, daß sie auch zu dem anderen gehen würde. Sie versuchte nicht, das Verlangen zu unterdrücken, obwohl sie wußte, daß Marie kaum dort sein würde. Als der Bergkamm zur Schlucht hinunter abfiel, kämpfte sie sich durch die Felsen bis zu dem Platz, wo Pascale kniend gebetet hatte. Hier gab es keine Spur des Geheimnisses mehr: Das Blut war schon längst in den Boden gesickert.
– Wo bist du, chérie ? sagte sie leise.
Als der Wolf hinter dem Felsen hervorkam, schrie Isabelle auf und sprang zur Seite, rannte aber nicht weg. Sie sahen sich gegenseitig an; das Leuchten in den Augen des Wolfes war wach und durchdringend. Er machte einen Schritt auf Isabelle zu und blieb dann stehen. Isabelle trat zurück. Der Wolf machte einen weiteren Schritt nach vorne, und Isabelle ging rückwärts zwischen den Felsen hindurch. Aus Angst, hinzufallen, drehte sie sich um, sah aber beim Gehen über die Schulter zurück, um sicherzugehen, daß der Wolf nicht näherkam. Er hielt immer den gleichen Abstand von ihr; er ging langsamer oder hielt an, wenn sie langsamer ging oder anhielt, und ging schneller, wenn sie schneller ging.
Er treibt mich wie ein Schaf, dachte Isabelle und zwingt mich, hinzugehen, wo er will. Indem sie zur Seite auswich, prüfte sie dies. Der Wolf sprang auf dieselbe Seite und lief schräg auf sie zu, bis sie sich wieder nach vorne wandte.
Sie kamen am Waldrand, auf dem Pfad, der von Moutier nach Grand Val führte, aus den Felsen hervor, auf den Weg zurück zum Hof. Aus der Richtung von Moutier sah sie das Pferd der Tourniers auf sich zukommen, und es trug Petit Jean und Gaspard. Es war das Pferd, das sie in der Scheune gehört hatte und das, wie ihr jetzt klar wurde, vorhin den Pfad entlanggaloppiert war.
Isabelle wandte sich nach dem Wolf um. Er war verschwunden.
Lucien hatte einen alten Citroën-Kleinlaster, der voller Werkzeug war – genau was ich gehofft hatte. Er rüttelte und keuchte so laut die Hauptstraße hinunter, daß ich mir sicher war, ganz Moutier stand am Fenster und beobachtete unsere Abfahrt. Soviel also zur Geheimhaltung.
Es hatte gerade angefangen zu regnen, ein feiner Sprühnebel, der die Straßen rutschig machte, und ich zog meine Jacke fester um die Schultern. Lucien schaltete die Scheibenwischer ein; sie quietschten gegen die Scheibe und legten meine Nerven bloß. Er fuhr sehr vorsichtig durch die Stadt, obwohl das nicht nötig gewesen wäre: Um halb zehn war kein Mensch mehr auf der Straße. Am Bahnhof, dem einzigen Ort, der Zeichen menschlichen Lebens aufwies, bog Lucien in die Straße nach Grand Val ein.
Während der Fahrt schwiegen wir. Ich war froh, daß er nicht viele Fragen stellte, wie ich das an seiner Stelle wohl getan hätte: Ich hätte nicht gewußt, was ich darauf hätte antworten sollen.
Wir bogen in eine kleine Straße ab, die unter den Eisenbahngleisen durchführte, und fuhren einen Berg hinauf. In der Nähe einer Häuseransammlung fuhr Lucien auf eine ungeteerte Straße, die ich von unserem Spaziergang an jenem Morgen wiedererkannte. Nach ungefähr dreihundert Metern hielt er an und stellte den Motor ab. Die Scheibenwischer hörten endlich auf zu quietschen, der Laster keuchte ein paarmal, gab ein langes schleifendes Geräusch von sich und war still.
»Da drüben ist es.« Lucien zeigte nach links. Mit einiger Mühe konnte ich den Umriß des Hofes etwa fünfzig Meter entfernt ausmachen. Ich schauderte; es würde schwer sein, aus dem Laster auszusteigen und hinzugehen.
»Ella, kann ich dich etwas fragen?«
»Ja«, erwiderte ich zögernd. Ich wollte ihm nicht alles erzählen, konnte aber nicht erwarten, daß er mir, so ganz ohne etwas zu wissen, helfen würde.
Er überraschte mich. »Du bist verheiratet.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage, aber ich nickte trotzdem zustimmend.
»Das war dein Mann, der da neulich angerufen hat, beim Fondue.«
»Ja.«
»Ich war auch mal verheiratet«, sagte er.
»Vraiment?« Das klang überraschter, als ich wollte. Es war genauso, als er mir erzählte, daß er an Schuppenflechte litt: Ich fühlte mich schuldig, weil ich angenommen hatte, er führte nicht so ein Leben wie ich, mit Streß und Beziehungsproblemen.
»Hast du Kinder?« fragte ich und versuchte damit, ihm sein Leben zurückzugeben.
»Eine Tochter. Christine. Sie lebt bei ihrer Mutter in Basel.«
»Nicht so weit weg.«
»Nein. Ich sehe sie jedes zweite Wochenende. Und du, hast du
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