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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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nicht mochte, wenn sie nie mit ihr gesprochen hat?«
    »Sie – sie hatte böse Augen, und sie starrte das kleine Mädchen an, wie sie es mit niemand sonst tat. Also wußte das Mädchen, daß sie sie nicht mochte. Und es war noch schlimmer, wenn sie ihr blaues Lieblingskleid trug.«
    »Weil die Großmutter es für sich haben wollte!«
    »Ja, der Stoff war sehr schön, aber er reichte nur, um ein Kleid für ein kleines Mädchen daraus zu machen. Wenn sie es trug, sah sie aus wie der Himmel.«
    »War es ein Zauberkleid?«
    »Natürlich. Es beschützte sie vor der Großmutter, und auch vor anderen Dingen – Feuer und Wölfen und bösen Jungs. Und vor dem Ertrinken. Und wirklich, eines Tages spielte das Mädchen am Fluß und fiel hinein. Sie sank im Wasser und sah die Fische unter sich schwimmen, und sie dachte, sie würde ertrinken. Dann aber blies das Kleid sich mit Luft auf, und sieschwebte an die Oberfläche und war gerettet. Daher wußte ihre Mutter, daß sie immer, wenn sie das Kleid trug, in Sicherheit sein würde.«
    Ich sah zu Sylvie hinüber; sie schlief. Mein Blick fiel auf die Fragmente des Blau zwischen uns.
    »Außer einem einzigen Mal«, fügte ich hinzu. »Und es braucht nicht mehr als ein einziges Mal.«
    Ich träumte, daß ich in einem brennenden Haus stand, um mich herum fielen Holzstücke herunter, und Asche wirbelte durch die Luft. Dann tauchte ein Mädchen auf. Ich sah sie nur aus dem Augenwinkel; immer wenn ich sie direkt ansehen wollte, verschwand sie. Sie war von blauem Licht umgeben.
    »Erinnere dich«, sagte sie. Sie wurde zu Jean-Paul; er hatte sich tagelang nicht rasiert und sah wild aus, sein Haar war so lang, daß es sich an den Enden lockte, sein Gesicht und seine Arme und sein Hemd waren rußbedeckt. Ich streckte den Arm aus und berührte sein Gesicht, und als ich meine Hand zurückzog, hatte er eine Narbe, die von der Nase bis zum Kinn reichte.
    »Woher hast du die?« fragte ich.
    »Vom Leben«, antwortete er.
    Ein Schatten fiel auf mein Gesicht, und ich wachte auf. Mathilde stand über mir und verdeckte die Abendsonne. Sie sah aus, als hätte sie schon eine Weile so dagestanden, hatte die Arme verschränkt und sah uns an. Ich setzte mich auf. »Entschuldige«, sagte ich und blinzelte. »Ich weiß, das hier sieht verrückt aus.«
    Mathilde schnaubte. »Ja, aber weißt du, ich bin gar nicht überrascht. Mir war klar, daß Sylvie diese Knochen noch mal sehen wollte. Sieht so aus, als ob sie keine Angst mehr davor hat.«
    »Nein. Sie war ganz erstaunlich ruhig.«
    Unsere Stimmen weckten sie; Sylvie drehte sich um und setzte sich auf; sie hatte ganz rote Wangen. Sie sah um sich, und ihr Blick blieb an den Knochen hängen.
    »Maman«, sagte sie. »Wir werden sie begraben.«
    »Was? Hier im Garten?«
    »Nein. Wo sie zu Hause ist.«
    Mathilde sah mich an.
    »Ich weiß schon, wo«, sagte ich.
    Mathilde gab mir ihr Auto, um nach Mende zu fahren. Seltsame Vorstellung, daß ich vor erst drei Wochen hier gewesen war; viel war seitdem passiert. Aber ich hatte das gleiche Gefühl wie damals, als ich jetzt um den düsteren Dom herum und durch die engen, dunklen Straßen der alten Stadt ging. Es war kein freundlicher Ort. Ich war froh, daß Mathilde weiter draußen wohnte, auch wenn es ein baumloser Vorort war.
    Die Adresse stellte sich als eben die Pizzeria heraus, in der ich damals gegessen hatte. Sie war fast so leer wie beim letzten Mal. Ich war ganz ruhig, als ich hineinging, aber als ich Rick allein vor einem Weinglas sitzen und stirnrunzelnd die Speisekarte lesen sah, drehte sich mir der Magen um. Ich hatte ihn dreizehn Tage lang nicht gesehen; es waren lange dreizehn Tage gewesen. Als er aufblickte und mich sah, stand er auf und lächelte nervös. Er war fürs Büro gekleidet, weißes Hemd, dunkelblauer Blazer und khakifarbene Hose. Er sah groß und gesund und amerikanisch aus in dieser dunklen Höhle, wie ein Cadillac, der sich durch eine enge Gasse zwängt.
    Wir küßten uns verlegen.
    »Um Gottes willen, Ella, was ist mit deinem Gesicht passiert?«
    Ich berührte die Wunde auf meiner Stirn. »Ich bin hingefallen«, sagte ich. »Nicht weiter tragisch.«
    Wir setzten uns. Rick schenkte mir ein Glas Wein ein, bevor ich ihn davon abhalten konnte. Ich berührte höflich meine Lippen damit, ohne ihn zu schlucken. Der Geruch von Säure und Essig brachte mich beinahe zum Würgen; ich stellte das Glas schnell wieder ab.
    Wir saßen schweigend da. Ich merkte, daß ich würde anfangen müssen.
    »Also

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