Das dunkelste Blau
dem Haus. Mathilde sprang auf. »Aha, das waren wohl die Knochen«, sagte ich.
Am schwersten fiel mir der Abschied von Susanne. Kurz nachdem Lucien die Sporttasche gebracht hatte, kam sie in mein Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und nickte in Richtung der Tasche, ohne hinzusehen.
»Lucien hat mir alles erzählt«, sagte sie. »Er hat es mir gezeigt.«
»Lucien ist ein guter Kerl.«
»Ja.« Sie sah zum Fenster hinaus. »Was denkst du, warum war es da?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht –« Ich hielt inne; sobald ich daran dachte, fing ich an zu zittern, und ich wollte sie doch überzeugen, daß es mir gut genug ging, um am nächsten Tag abzureisen.
Susanne legte eine Hand auf meinen Arm. »Ich hätte nichts sagen sollen.«
»Ist schon in Ordnung.« Ich wechselte das Thema. »Kann ich etwas ganz Unverschämtes sagen?« Meine Schwäche machte mich ehrlich.
»Natürlich.«
»Du mußt Jan loswerden.«
Der Schock in ihrem Gesicht enthielt keine Ablehnung; als sie anfing zu lachen, lachte ich mit.
Mathilde kam wieder aus dem Haus, eine weinende Sylvie an der Hand.
»Entschuldige dich bei Ella, daß du ihre Sachen angesehen hast«, befahl sie.
Durch ihre Tränen sah Sylvie mich mißtrauisch an. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Maman, bitte, darf ich im Planschbecken spielen?«
»Gut.«
Sylvie rannte zum Planschbecken, als wollte sie mir so schnell wie möglich entkommen.
»Tut mir leid«, sagte Mathilde. »Sie ist ein neugieriger Fratz.«
»Macht nichts. Es tut mir leid, daß ich ihrAngst eingejagt habe.«
»Also diese – das – ist es das, was du gefunden hast? Was du gesucht hast?«
»Ich glaube, sie hieß Marie Tournier.«
» Mon Dieu. Sie war – aus der Familie?«
»Ja.« Ich fing an zu reden, über den Hof und den alten Kamin und den Herd und die Namen Marie und Isabelle. Über die Farbe Blau und den Traum und das Geräusch des fallenden Steins. Und meine Haarfarbe.
Mathilde hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Sie musterte ihre leuchtend pinkfarbenen Fingernägel und zupfte an der Nagelhaut.
»Verrückte Geschichte!« rief sie, als ich zu Ende gekommen war. »Du solltest sie aufschreiben.« Sie wollte noch etwas sagen, unterdrückte es aber.
»Was?«
»Warum bist du hierhergekommen?« fragte sie. » Ecoute, ich freue mich ja, daß du da bist, aber warum bist du nicht nach Hause gegangen? Willst du nicht nach Hause, wenn du deprimiert bist, zu deinem Mann?«
Ich seufzte. Noch soviel zu erzählen: Wir würden noch stundenlang hier sitzen. Ihre Frage erinnerte mich an etwas. Ich sah mich um. »Gibt es einen – hast du einen – wo ist der Vater von Sylvie?« fragte ich ungeschickt.
Mathilde lachte und winkte ab. »Wer weiß das schon? Ich habe ihn seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Er hat sich nie dafür interessiert, Kinder zu haben. Er wollte nicht, daß ich Sylvie bekomme, also –« Sie zuckte die Achseln. » Tant pis . Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
Da erzählte ich ihr alles andere, über Rick und Jean-Paul. Obwohl ich nichts ausließ, dauerte es nicht so lange, wie ich gedacht hatte.
»Also Rick weiß gar nicht, wo du bist?«
»Nein. Mein Cousin wollte ihn anrufen und ihm sagen, daß ich nach Hause komme, aber ich habe ihn davon abgehalten. Ich habe ihm gesagt, daß ich Rick vom Flughafen aus anrufen würde. Vielleicht wußte ich ja schon irgendwie, daß ich es nicht zurück schaffen würde.«
Eigentlich hatte ich völlig betäubt im Zug gesessen und überhaupt nicht an mein Ziel gedacht. In Montpellier mußte ich umsteigen, und während ich wartete, hörte ich zufällig eine Zugansage, bei der Mende als Station genannt wurde. Ich sah den Zug einfahren, Leute ein- und aussteigen. Dann stand er einfach da, und je länger er so dastand, desto verlockender schien er mir. Schließlich nahm ich meine Taschen und stieg ein.
»Ella«, sagte Mathilde. Ich sah hoch. »Du mußt wirklich mit Rick sprechen, n’est-ce pas? Über alles.«
»Ich weiß. Aber ich kann den Gedanken, ihn anzurufen, einfach nicht ertragen.«
»Laß mich das machen!« Sie sprang auf und schnalzte mit den Fingern. »Gib mir die Nummer.« Zögernd gab ich nach. »Gut. Jetzt paß auf Sylvie auf. Und komm bloß nicht herein!«
Ich lehnte mich im Stuhl zurück. Es war eine Erleichterung, sie einfach machen zu lassen.
Zum Glück vergessen Kinder schnell. Am Abend spielten Sylvie und ich zusammen im Becken. Als wir hineingingen, hatte Mathilde die
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