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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Planschbecken füllte, ging ich mit meinem neuen Kauf ins Bad. Als ich wieder herunterkam, sprang sie ins Wasser und spritzte herum, und ich lag auf dem Rasen und blickte in den Himmel.
    Nach einer Weile kam sie und setzte sich neben mich. Sie spielte mit einer alten Barbiepuppe, deren Haar drastisch gekürzt worden war, sprach mit ihr und ließ sie tanzen.
    »Ella?« fing sie an. Ich wußte schon, was kommen würde. »Wo ist die Tasche mit den Knochen?«
    »Ich weiß nicht. Deine Mutter hat sie weggeräumt.«
    »Also ist sie noch im Haus?«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
    »Wo könnte sie sonst sein?«
    »Vielleicht hat deine Mutter sie ja mit in die Arbeit genommen oder einem Nachbarn gegeben.«
    Sylvie sah sich um. »Unsere Nachbarn? Warum sollten sie das bei sich haben wollen?«
    Schlechte Idee. Ich änderte meine Taktik. »Warum fragst du mich das?«
    Sylvie sah auf die Puppe hinab, zog sie an den Haaren und zuckte die Achseln. »Weiß nicht«, murmelte sie.
    Ich wartete einen Augenblick. »Willst du sie noch mal sehen?« fragte ich.
    »Ja.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Du wirst nicht schreien oder Angst haben?«
    »Nein, nicht, wenn du auch da bist.«
    Ich holte die Tasche aus dem Schrank und trug sie nach draußen. Sylvie saß da, hatte die Knie unter das Kinn hochgezogen und beobachtete mich nervös. Ich stellte die Tasche ab. »Willst du, daß ich es – auslege, so daß du es sehen kannst, und du wartest drinnen, und wenn es soweit ist, rufe ich dich?«
    Sie nickte und sprang auf. »Ich will eine Cola. Darf ich eine Cola haben?«
    »Ja.« Sie rannte hinein.
    Ich atmete tief ein und öffnete den Reißverschluß der Tasche. Ich hatte bisher noch nicht hineingesehen.
    Als alles soweit war, ging ich Sylvie holen; sie saß mit einem Glas Cola im Wohnzimmer und sah fern.
    »Komm«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen. Zusammen gingen wir zur Hintertür. Von dort aus konnte man etwas im Gras liegen sehen. Sie drückte sich an mich.
    »Weißt du, du mußt es dir nicht ansehen. Aber es wird dir nichts tun. Es ist nicht lebendig.«
    »Was ist es?«
    »Ein Mädchen.«
    »Ein Mädchen? So wie ich?«
    »Ja. Das sind ihre Knochen und ihr Haar. Und ein Stückchen von ihrem Kleid.«
    Wir gingen hin. Zu meiner Überraschung ließ Sylvie meine Hand los und hockte sich neben die Knochen. Sie sah lange hin.
    »Das ist ein schönes Blau«, sagte sie schließlich. »Was ist mit dem Rest von ihrem Kleid passiert?«
    »Es ist –« verrottet – noch ein Wort, das ich nicht wußte. »Es wurde alt und ist kaputtgegangen«, erklärte ich ungeschickt.
    »Ihr Haar hat dieselbe Farbe wie deins.«
    »Ja.«
    »Woher kommt sie?«
    »Aus der Schweiz. Sie ist unter einem Herd begraben worden.«
    »Warum?«
    »Warum sie gestorben ist?«
    »Nein, warum ist sie unter dem Herd begraben worden? Damit es ihr immer warm genug war?«
    »Vielleicht.«
    »Wie hat sie geheißen?«
    »Marie.«
    »Sie sollte noch mal begraben werden.«
    »Warum?« Ich war neugierig, was sie sagen würde.
    »Weil sie ein Zuhause braucht. Sie kann nicht immer hierbleiben.«
    »Das stimmt.«
    Sylvie setzte sich ins Gras, streckte sich dann neben den Knochen aus. »Ich schlafe jetzt«, verkündete sie.
    Ich überlegte, ob ich sie abhalten sollte, ihr sagen, daß das makaber war, daß sie Alpträume bekommen könnte, daß Mathilde uns finden und denken würde, daß ich eine schreckliche Mutter abgäbe, wenn ich ihre Tochter neben einem Skelett schlafen ließ. Aber ich sagte nichts dergleichen. Statt dessen legte ich mich auf die andere Seite der Knochen.
    »Erzähl mir eine Geschichte«, verlangte Sylvie.
    »Ich bin nicht besonders gut im Geschichtenerzählen.«
    Sylvie stützte sich auf einen Ellbogen. »Alle Erwachsenen können Geschichten erzählen! Erzähl mir eine.«
    »Na gut. Es war einmal ein kleines Mädchen mit blondem Haar und einem blauen Kleid.«
    »Wie ich? Hat sie mir ähnlich gesehen?«
    »Ja.«
    Sylvie legte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück und schloß die Augen.
    »Sie war ein mutiges kleines Mädchen. Sie hatte zwei ältere Brüder, eine Mutter und einen Vater und eine Großmutter.«
    »Hatten sie sie lieb?«
    »Fast alle, außer der Großmutter.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht.« Ich hielt inne. Sylvie öffnete die Augen. »Sie war eine häßliche alte Frau«, fuhr ich schnell fort. »Sie war klein und immer schwarz gekleidet. Und sie sprach nie.«
    »Woher hat das Mädchen denn gewußt, daß die Großmutter sie

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