Das dunkelste Blau
ich habe noch keine Arbeitserlaubnis. Außerdem ist das Gesundheitswesen hier anders, deshalb muß ich ein Examen machen, bevor ich hier praktizieren kann. Also lerne ich Französisch, und diesen Herbst fange ich einen Kurs für Hebammen in Toulouse an, um mich auf das Examen vorzubereiten.«
»Sie sehen müde aus.« Er wechselte das Thema so abrupt, als wollte er sagen, daß ich mit dem Geplauder über meine Karriere seine Zeit verschwendete.
»Ich habe oft Alpträume, aber –« ich hielt inne. Bei ihm wollte ich erst gar nicht davon anfangen.
»Sie sind unglücklich, Madame Turner?« fragte er sanfter.
»Nein, nein, nicht unglücklich«, erwiderte ich unsicher. Das ist manchmal schwer zu sagen, wenn ich so müde bin, fügte ich im stillen hinzu.
»Sie wissen, daß Psoriasis manchmal vorkommt, wenn man nicht genug schläft.«
Ich nickte. Soviel also zur Psychoanalyse.
Der Arzt verschrieb Cortison-Salbe, Zäpfchen gegen die Schwellungen und Schlaftabletten, falls das Jucken mich wachhaltenwürde. Dann sagte er, ich solle in einem Monat wiederkommen. Als ich ging, fügte er hinzu: »Und kommen Sie zu mir, wenn Sie schwanger sind. Ich bin auch ein obstétricien .«
Ich wurde wieder rot.
Mit meiner Begeisterung für Lisle-sur-Tarn war es ungefähr zur gleichen Zeit vorbei wie mit meinem ungestörten Schlaf.
Es war ein hübsches, friedliches Städtchen, und das Tempo hier zweifellos gesünder als das, woran ich in den Staaten gewöhnt war. Auch die Lebensqualität war besser. Das frische Obst und Gemüse auf dem Markt am Samstag, das Fleisch in der boucherie , das Brot in der boulangerie – all das schmeckte herrlich für jemanden, der mit langweiligen Supermarkt-Produkten aufgewachsen ist. In Lisle war das Mittagessen immer noch die Hauptmahlzeit, die Kinder rannten frei und ohne Angst vor Fremden oder Autos in der Gegend herum, und es gab immer Zeit für einen kleinen Schwatz. Niemand hatte es so eilig, daß er nicht zum Plaudern hätte stehenbleiben können.
Mit allen außer mir, heißt das. Soweit ich wußte, waren Rick und ich die einzigen Ausländer in der Stadt. So wurden wir auch behandelt. Unterhaltungen brachen ab, sobald ich ein Geschäft betrat, und wenn sie wiederaufgenommen wurden, war ich sicher, daß das Thema gewechselt worden war. Die Leute waren höflich, aber nach vielen Wochen hatte ich immer noch das Gefühl, mit niemandem ein wirkliches Gespräch geführt zu haben. Ich strengte mich an, alle Leute, die ich wiedererkannte, zu grüßen, und sie grüßten mich zurück, aber niemand grüßte mich zuerst oder blieb stehen, um sich mit mir zu unterhalten. Ich versuchte, Madame Sentiers Rat zu folgen und soviel wie möglich zu sprechen, aber ich bekam so wenig Ermutigung, daß meine Gedanken austrockneten. Nur bei direkten Begegnungen, wenn ich etwas kaufte oder nach dem Weg fragte, hatten die Leute ein paar Worte für mich übrig.
Eines Morgens saß ich in einem Café auf dem Marktplatz,trank Kaffee und las Zeitung. Es saßen noch einige andere Leute an den Tischen. Der Besitzer schwatzte mit den Gästen und verteilte Süßigkeiten an die Kinder. Ich war schon ein paarmal dort gewesen; er und ich nickten uns zur Begrüßung zu, waren aber noch nicht zu einer Unterhaltung fortgeschritten. In zehn Jahren sind wir dann soweit, dachte ich sarkastisch.
Ein paar Tische weiter saß eine Frau, die jünger war als ich, mit einem fünf Monate alten Baby, das neben ihr in einem Auto-Babysitz lag und eine Rassel schüttelte. Die Frau trug enge Jeans und hatte ein aufdringliches Lachen. Nach einer Weile stand sie auf und ging hinein. Das Baby schien nicht zu bemerken, daß sie weg war.
Ich versuchte, mich auf ›Le Monde‹ zu konzentrieren. Ich zwang mich immer, die ganze erste Seite zu lesen, bevor ich die ›Herald Tribune‹ auch nur anfassen durfte. Es war wie ein unendliches Waten im Schlamm: Nicht nur wegen der Sprache, sondern auch wegen all der Namen, die ich nicht kannte, der politischen Konstellationen, über die ich nichts wußte. Auch wenn ich einen Beitrag verstand, interessierte er mich nicht unbedingt.
Ich arbeitete mich gerade durch einen Artikel über einen bevorstehenden Poststreik – ein Phänomen, das ich von den USA her nicht kannte –, als ich ein seltsames Geräusch oder vielmehr eine seltsame Stille hörte. Ich sah auf. Das Baby hatte aufgehört, mit der Rassel zu spielen, und ließ sie in seinen Schoß fallen. Sein Gesicht schrumpelte zusammen wie eine nach dem Essen
Weitere Kostenlose Bücher