Das dunkelste Blau
weggeworfene Serviette. Aha, jetzt fängt es an zu schreien, dachte ich. Ich sah ins Café; die Mutter stand an die Bar gelehnt, telefonierte und spielte dabei mit einem Untersetzer herum.
Das Baby schrie nicht: Sein Gesicht wurde röter und röter, als ob es zu schreien versuchte, aber nicht konnte. Dann lief es violett und gleich darauf blau an.
Ich sprang auf, mein Stuhl fiel mit einem Krachen um. »Es erstickt!« rief ich.
Ich war nur ein paar Meter weg, aber als ich es erreichte, hattesich bereits ein Ring von Gästen um das Baby gebildet. Ein Mann hockte vor dem Baby und klopfte ihm die blauen Wangen. Ich versuchte mich hindurchzuzwängen, aber der Cafébesitzer, der mit dem Rücken zu mir stand, stellte sich dauernd vor mich.
»Passen Sie auf, es erstickt!« rief ich. Ich fand mich vor einer Mauer aus Schultern. Dann rannte ich zur anderen Seite des Ringes. »Ich bin Hebamme, ich kann helfen!«
Die Leute, zwischen denen ich mich durchboxte, starrten mich mit harten und kalten Gesichtern an.
»Sie müssen ihm auf den Rücken klopfen, es bekommt keine Luft. Sofort! Es bekommt einen Hirnschaden, wenn Sie das nicht schnell tun!«
Ich hielt inne. Ich hatte die ganze Zeit über englisch gesprochen.
Die Mutter tauchte auf und glitt problemlos durch die Menschenwand. Hysterisch begann sie, dem Baby auf den Rücken zu schlagen, zu heftig, dachte ich. Alle standen da und sahen in furchtsamer Stille zu. Ich überlegte, wie ich den Heimlich-Handgriff auf französisch erklären könnte, als das Baby plötzlich hustete und ein rotes Lutschbonbon aus seinem Mund schoß. Es schnappte nach Luft, fing an zu schreien, und sein Gesicht wurde wieder hellrot.
Ein Seufzer ging durch die Menge, und die Leute zerstreuten sich. Ich streifte den Blick des Cafébesitzers, er sah mich kühl an. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er wandte sich ab, nahm sein Tablett und ging hinein. Ich klaubte meine Zeitungen zusammen und ging, ohne zu bezahlen.
Danach fühlte ich mich sehr unwohl in der Stadt. Das Café und die Frau mit dem Baby mied ich. Ich fand es schwierig, den Leuten in die Augen zu sehen. Mein Französisch wurde weniger selbstsicher und meine Aussprache schlechter.
Madame Sentier bemerkte es sofort. »Aber was ist nur passiert?« fragte sie. »Sie haben so gute Fortschritte gemacht.«
Eine Vision von einem Ring aus Schultern stieg in mir hoch. Ich sagte nichts.
Eines Tages hörte ich in der boulangerie die Frau vor mir sagen, daß sie auf dem Weg zu la bibliothèque sei, und sie machte eine Geste, als wäre das gleich um die Ecke. Madame gab ihr ein Buch mit einem Plastikeinband; es war ein Kitschroman. Eilig kaufte ich meine Baguettes und Quiches und kürzte dabei meine unbeholfene rituelle Konversation mit Madame ab. Ich trat hinaus und folgte der anderen Frau, die ihre täglichen Einkäufe um den Marktplatz herum machte. Sie blieb stehen, um verschiedene Leute zu begrüßen, und stritt mit allen Ladeninhabern, während ich auf einer Bank saß und sie über meiner Zeitung nicht aus den Augen ließ. Sie klapperte drei Seiten des Marktplatzes ab, bevor sie das Rathaus auf der vierten Seite betrat. Ich faltete meine Zeitung zusammen und rannte ihr nach, mußte dann aber in der Eingangshalle herumstehen und Heiratsaufgebote und Baugenehmigungen studieren, während sie sich die Treppe zur nächsten Etage hocharbeitete. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und schlüpfte hinter ihr durch die Tür. Als ich sie hinter mir zugezogen hatte, befand ich mich das erste Mal in dieser Stadt an einem vertrauten Ort.
Die Bibliothek hatte genau die Mischung von Schäbigkeit und tröstlicher Ruhe, die ich an den Büchereien zu Hause so sehr mochte. Obwohl sie klein war – es gab nur zwei Räume –, hatte sie hohe Decken und große Fenster, was einen unerwartet hellen, luftigen Eindruck hervorrief. Mehrere Leute sahen von ihrer Beschäftigung hoch, um mich zu mustern, aber ihre Aufmerksamkeit war glücklicherweise von kurzer Dauer, und nach und nach wandten sie sich wieder ihrer Lektüre zu.
Ich sah mich um und ging dann zum Schalter, um mich für eine Bibliothekskarte anzumelden. Eine freundliche Frau mittleren Alters in einem schicken olivfarbenen Kostüm sagte, daß ich ein Dokument mit meiner französischen Adresse als Beweis desWohnsitzes vorlegen müßte. Taktvoll wies sie mich in die Richtung eines mehrbändigen französisch-englischen Wörterbuchs und einer kleinen englischsprachigen Abteilung.
Die Frau war nicht
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