Das dunkelste Blau
aufgetaucht war, ging ich die Straße am Fluß entlang, und da sah ich ihn in der Sonne vor dem Café an der Brücke sitzen, zu dem ich jetzt immer ging. Er schien durch das Wasser unten wie hypnotisiert, und ich blieb stehen und überlegte, ob ich etwas zu ihm sagen sollte oder nicht, oder ob ich vielleicht einfach leise vorbeigehen konnte, ohne daß er mich bemerkte. Genau in dem Augenblick sah er hoch und ertappte mich, wie ich ihn beobachtete. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht; er sah aus, als ob seine Gedanken weit weg wären.
»Bonjour«, sagte ich und fühlte mich ziemlich albern.
»Bonjour .« Er rutschte etwas in seinem Stuhl herum und wies auf den neben ihm. »Café?«
Ich zögerte. »Oui, s’il vous plaît« , sagte ich schließlich. Ich setzte mich, und er nickte dem Kellner zu. Einen Moment lang fühlte ich eine schreckliche Verlegenheit, und heftete meine Augen fest auf den Tarn, so daß ich ihn nicht ansehen mußte. Es war ein breiter Fluß, etwa hundert Meter breit, grün, durchsichtig und scheinbar unbewegt. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich das gelegentliche Aufleuchten einer dunklen, rostroten Substanz, die an die Oberfläche trat und dann wieder verschwand.Fasziniert folgte ich diesen roten Flecken mit den Augen. Jedesmal, wenn einer verschwand, hatte ich ein merkwürdig zwiespältiges Gefühl von Erleichterung und Enttäuschung, dann wieder steigende Erregung, während ich darauf wartete, daß der nächste Fleck auftauchte. Als er tatsächlich da war, erschauerte ich unwillkürlich, ließ ihn aber nicht aus den Augen, bis er außer Sichtweite verschwand.
Der Kellner kam mit dem Kaffee auf einem silbernen Tablett und verstellte mir den Blick auf den Fluß. Ich wandte mich an den Bibliothekar. »Das Rot da im Tarn, was ist das?« fragte ich auf französisch.
Er antwortete auf englisch. »Tonablagerungen aus den Bergen. Es gab kürzlich einen Erdrutsch, der den Ton unterhalb des Humus freigelegt hat. Er wird in den Fluß gewaschen.«
Mein Blick wurde vom Wasser angezogen. Während ich noch immer den Ton beobachtete, wechselte ich ins Englische. »Wie heißen Sie?«
»Jean-Paul.«
»Danke für die Bibliothekskarte, Jean-Paul, das war sehr nett.«
Er zuckte die Achseln, und ich war froh, daß ich nicht mehr Aufhebens gemacht hatte.
Eine lange Zeit saßen wir schweigend, tranken unseren Kaffee und sahen zum Fluß. Es war warm in der späten Maisonne, und ich hätte gern meine Jacke ausgezogen, wollte aber nicht, daß er die Schuppenflechte an meinen Armen sah.
»Warum sind Sie nicht in der Bibliothek?« fragte ich plötzlich.
Er sah auf. »Es ist Mittwoch. Die Bibliothek hat zu.«
»Ah. Wie lang arbeiten Sie da schon?«
»Drei Jahre. Vorher war ich Bibliothekar in Nîmes.«
»Also das ist Ihr richtiger Beruf? Sie sind Bibliothekar?«
Er warf mir einen schrägen Blick zu, während er sich eine Zigarette anzündete. »Ja. Warum?«
»Es ist bloß – Sie kommen mir gar nicht vor wie ein Bibliothekar.«
»Wie komme ich Ihnen denn vor?«
Ich musterte ihn. Er trug schwarze Jeans und ein weiches lachsfarbenes Baumwollhemd; ein schwarzer Blazer war über die Rückenlehne seines Stuhls gehängt. Seine Arme waren braun, die Unterarme dicht mit schwarzen Haaren bedeckt.
»Wie ein Gangster«, erwiderte ich. »Nur die Sonnenbrille fehlt.«
Jean-Paul lächelte und ließ den Rauch aufsteigen, so daß er einen blauen Vorhang um sein Gesicht bildete. »Wie sagt ihr Amerikaner? ›Beurteile ein Buch nicht nach seinem Einband.‹«
Ich lächelte zurück. »Touché.«
»Und warum sind Sie hier in Frankreich, Ella Tournier?«
»Mein Mann hat eine Stelle als Architekt in Toulouse.«
»Und warum sind Sie hier?«
»Wir wollten lieber in einer kleinen Stadt wohnen als in Toulouse. Vorher waren wir in San Francisco, und ich bin in Boston aufgewachsen, also dachte ich, eine kleine Stadt wäre eine interessante Abwechslung.«
»Ich habe gefragt, warum sind Sie hier.«
»Oh.« Ich hielt inne. »Weil mein Mann hier ist.«
Er zog die Augenbrauen hoch und drückte seine Zigarette aus.
»Ich meine, ich wollte hierherkommen. Ich habe mich darauf gefreut.«
»Sie haben sich gefreut oder freuen Sie sich noch?«
Ich schnaubte. »Ihr Englisch ist sehr gut. Wo haben Sie es gelernt?«
»Ich habe zwei Jahre lang in New York gelebt und Bibliothekswesen an der Columbia University studiert.«
»Sie haben in New York gelebt und sind dann hierher zurückgekommen?«
»Nach Nîmes und dann hierher,
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