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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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ja.« Er lächelte leicht. »Warum ist das so erstaunlich, Ella Tournier? Hier bin ich zu Hause.«
    Ich wünschte, er würde aufhören, mich Ella Tournier zu nennen. Er sah mich mit dem Grinsen an, das ich zuerst in der Bibliothek an ihm gesehen hatte, undurchdringlich und herablassend. Ich hätte sein Gesicht gerne gesehen, als er meine Bibliothekskarte ausgestellt hat: War das auch ein Akt der Überlegenheit gewesen?
    Ich stand abrupt auf und suchte in meiner Handtasche nach Münzen.
    »Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich muß jetzt gehen.« Ich legte das Geld auf den Tisch. Jean-Paul sah hin und runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf beinahe unmerklich. Ich wurde rot, sammelte die Münzen ein und wandte mich zum Gehen.
    »Au revoir, Ella Tournier. Viel Spaß mit Henry James.«
    Ich wirbelte herum. » Warum nennen Sie mich immer Ella Tournier?«
    Er lehnte sich zurück und hatte die Sonne in den Augen, so daß ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Damit Sie sich daran gewöhnen. Dann wird es Ihr Name.«
    Durch den Poststreik verspätet kam die Antwort meines Cousins am ersten Juni, einen Monat, nachdem ich ihm geschrieben hatte. Jacob Tournier hatte zwei Seiten in einem großen, beinahe unentzifferbaren Gekritzel geschrieben. Ich holte mein Wörterbuch hervor und begann mich durch den Brief zu arbeiten, aber er war so schwierig, daß ich nach erfolglosem Suchen mehrerer Wörter beschloß, das größere Wörterbuch in der Bibliothek zu benutzen.
    Jean-Paul sprach mit einem Mann an seinem Tresen, als ich hereinkam. Es gab weder eine Veränderung in seinem Verhalten noch in seinem Gesichtsausdruck, aber ich bemerkte mit eigenartiger Befriedigung, daß er mir nachsah, als ich vorbeiging. Ich nahm die Bände des Wörterbuchs mit zu einem Tisch, setzte mich mit dem Rücken zu ihm und ärgerte mich, daß ich mir seiner Anwesenheit so bewußt war.
    Das Bibliothekswörterbuch war besser, aber es gab immer noch einige Wörter, die ich nicht finden konnte, und noch mehr, die ich einfach nicht lesen konnte. Nachdem ich eine Viertelstunde an einem Abschnitt gesessen hatte, lehnte ich mich zurück, benommen und frustriert. Und sah Jean-Paul links von mir an der Wand lehnen, mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, der in mir den starken Wunsch hervorrief, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Ich sprang auf, streckte ihm den Brief hin und zischte: »Hier, machen Sie’s doch!«
    Er nahm die Blätter, warf einen oberflächlichen Blick darauf und nickte. »Lassen Sie mich das mitnehmen«, sagte er. »Bis Mittwoch im Café.«
    Am Mittwoch morgen saß er am gleichen Tisch, im gleichen Stuhl, aber heute war es bewölkt, und es gab keine blubbernden Tonablagerungen im Fluß.
    Ich saß ihm diesmal gegenüber, so daß der Fluß hinter mir war und wir uns ansehen mußten. Hinter ihm blickte ich in das leere Café: Der Kellner, der gerade Zeitung las, hob den Kopf, als ich mich setzte, und gab seine Lektüre auf, als ich ihm zunickte.
    Keiner von uns sprach, während wir auf unseren Kaffee warteten. Ich war zu müde, um Small-talk zu machen; es war die strategische Zeit des Monats, und der Traum hatte mich drei Nächte hintereinander aufgeweckt. Ich hatte nicht wieder einschlafen können und stundenlang wachgelegen, während ich Rick atmen hörte. Ich hatte zu nachmittäglichen Nickerchen Zuflucht genommen, aber danach fühlte ich mich immer elend und orientierungslos. Zum erstenmal verstand ich die Gesichter der jungen Mütter, mit denen ich gearbeitet hatte: den verwirrten, verstörten Gesichtsausdruck von jemandem, der nicht genug Schlaf bekam.
    Als unsere Kaffeetassen vor uns standen, legte Jean-Paul Jacob Tourniers Brief auf den Tisch. »Da sind ein paar schweizerische Ausdrücke drin«, sagte er, »die Sie vielleicht nicht verstehen.Und die Schrift ist schwer zu lesen, obwohl es schlimmere gibt.« Er reichte mir eine sauber geschriebene Seite mit der Übersetzung.
    Meine liebe Cousine!
    Wie habe ich mich über Deinen Brief gefreut! Ich kann mich noch gut an Deinen Vater erinnern, an seinen kurzen Besuch in Moutier vor langer Zeit, und freue mich, seine Tochter kennenzulernen.
    Es tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe, um Deine Fragen zu beantworten, aber ich mußte erst die alten Aufzeichnungen meines Großvaters durchsehen. Er war es, der sich für die Familie interessiert hat, weißt Du, und er hat viele Nachforschungen betrieben. Er fertigte sogar einen Familienstammbaum an – es ist schwierig, ihn für

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