Das dunkelste Blau
wurde, schien seine Skepsis zu mildern; er setzte sich im Stuhl zurecht. »Sie könnten mit den Archiven in Mende, der Hauptstadt von Lozère, einem der départements der Cevennen, anfangen. Aber ich glaube, Sie verwenden das Wort ›Forschung‹ etwas sorglos. Es gibt nicht viele Aufzeichnungen aus dem 16 . Jahrhundert. Damals haben die Leute nicht so genau Buch geführt, wie es nach der Revolutionüblich wurde. Es gab Kirchenregister, das schon, aber viele wurden in den Religionskriegen zerstört. Und besonders die Dokumente der Hugenotten wurden nicht sicher verwahrt. Also ist es sehr unwahrscheinlich, daß Sie etwas über die Tourniers finden, wenn Sie in Mende suchen.«
»Warten Sie.Woher wissen Sie, daß sie, äh, Hugenotten waren?«
»Die meisten Franzosen, die damals in die Schweiz gingen, waren Hugenotten, die nach einem sicheren Ort suchten oder die nahe bei Calvin in Genf sein wollten. Es gab zwei große Auswanderungswellen, 1572 und 1685 , die erste nach dem Massaker der Bartholomäusnacht, die andere nach der Aufhebung des Edikts von Nantes. Darüber können Sie in der Bibliothek nachlesen. Ich werde nicht alle Arbeit für Sie erledigen«, fügte er spöttisch hinzu.
Ich ignorierte das. Langsam begann ich Gefallen an dem Gedanken zu finden, einen Teil Frankreichs zu erkunden, aus dem vielleicht meine Vorfahren stammten. »Also denken Sie, es lohnt sich, wenn ich zum Archiv nach Mende fahre?« fragte ich, naiverweise optimistisch.
Er blies den Rauch in einer geraden Linie nach oben. »Nein.«
Meine Enttäuschung mußte offensichtlich gewesen sein, denn Jean-Paul trommelte ungeduldig auf dem Tisch herum und meinte: »Tja, Ella Tournier, es ist nicht so einfach, etwas über die Vergangenheit herauszufinden. Ihr Amerikaner kommt hier rüber, um nach euren Wurzeln zu suchen und denkt, daß ihr alles an einem Tag findet, nicht? Und dann geht ihr hin, macht ein paar Fotos und fühlt euch richtig gut, fühlt euch ganz französisch für einen Tag, ja? Und am nächsten Tag geht ihr in anderen Ländern auf die Suche nach euren Vorfahren. Auf diese Art beansprucht ihr die ganze Welt als euren Besitz.«
Ich nahm meine Tasche und stand auf. »Das macht Ihnen wirklich Spaß, nicht wahr?« sagte ich scharf. »Danke für Ihren Rat. Ich habe wirklich etwas über französischen Optimismus gelernt.« Ich warf eine Zehn-Franc-Münze auf den Tisch; sierollte an Jean-Pauls Ellbogen vorbei und fiel zu Boden, wo sie ein paarmal auf den Beton aufschlug.
Er berührte meinen Arm, als ich mich zum Gehen wandte. »Warten Sie, Ella. Gehen Sie nicht. Ich wollte Sie nicht wütend machen. Ich versuchte nur, realistisch zu sein.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Warum sollte ich bleiben? Sie sind arrogant und pessimistisch, und Sie machen sich über alles, was ich tue, lustig. Ich möchte ein bißchen mehr über meine französischen Vorfahren erfahren, und Sie benehmen sich, als würde ich mir die französische Flagge auf den Hintern tätowieren wollen. Es ist schwer genug, hier zu leben, auch ohne daß Sie dafür sorgen, daß ich mich noch fremder fühle.« Ich drehte mich noch einmal weg, aber zu meiner Überraschung spürte ich, daß ich zitterte; mir war so schwindlig, daß ich mich am Tisch festhalten mußte.
Jean-Paul sprang auf und schob mir einen Stuhl hin. Als ich hineinsank, rief er dem Kellner drinnen zu: »Un verre d’eau, Dominique, vite, s’il te plaît.«
Das Wasser und mehrere tiefe Atemzüge halfen. Ich fächelte mir mit den Händen Luft zu; ich war rot geworden und schwitzte. Jean-Paul saß mir gegenüber und beobachtete mich genau.
»Vielleicht sollten Sie Ihre Jacke ausziehen«, schlug er ruhig vor; zum erstenmal war seine Stimme sanft.
»Ich –« Aber dies war nicht der richtige Augenblick für falsche Scham, und ich war zu müde, um zu widersprechen; meine Wut auf ihn war wie weggeblasen, seit ich mich wieder hingesetzt hatte. Zögernd schüttelte ich meine Jacke ab. »Ich hab Psoriasis«, sagte ich leichthin und versuchte damit, jeder Peinlichkeit über den Zustand meiner Arme zuvorzukommen. »Der Arzt hat gesagt, daß es von Streß und zuwenig Schlaf kommt.«
Jean-Paul sah sich die Stellen schuppiger Haut an, als wären sie ein interessantes modernes Gemälde.
»Sie schlafen nicht?« fragte er.
»Ich habe Alpträume. Eigentlich einen Alptraum.«
»Und erzählen Sie Ihrem Mann davon? Ihren Freunden?«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.«
»Warum sprechen Sie nicht mit Ihrem
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