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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Mann?«
    »Ich will nicht, daß er denkt, daß ich hier unglücklich bin.« Ich fügte nicht hinzu, daß Rick sich durch die Verbindung des Traumes mit Sex bedroht fühlen könnte.
    »Sind Sie unglücklich?«
    »Ja«, sagte ich und sah Jean-Paul gerade ins Gesicht. Es tat gut, es auszusprechen.
    Er nickte. »Also, wie geht der Alptraum? Beschreiben Sie ihn mir.«
    Ich blickte auf den Fluß. »Ich erinnere mich nur an Bruchstücke. Es gibt keine echte Geschichte. Da ist eine Stimme, nein, zwei Stimmen, eine, die Französisch spricht, und eine andere, die weint, wirklich hysterisch schreit. Alles ist in einem Nebel, als ob die Luft sehr schwer wäre, wie Wasser. Und es gibt einen dröhnenden Schlag am Ende, als ob eine Tür ins Schloß fällt. Und vor allem ist überall die Farbe Blau, überall. Überall. Ich weiß nicht, wovor ich solche Angst habe, aber jedesmal, wenn ich diesen Traum habe, will ich zurück nach Hause. Es ist mehr die Atmosphäre als das, was eigentlich passiert, die mir soviel Angst einjagt. Und die Tatsache, daß ich den Traum immer wieder habe, daß er einfach nicht weggeht, als ob er mir mein ganzes Leben lang bleiben würde. Das ist am schlimmsten.« Ich hielt inne. Ich hatte nicht gewußt, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, jemandem davon zu erzählen.
    »Wollen Sie zurück in die Staaten?«
    »Manchmal. Dann bin ich wütend auf mich selber, daß ich wegen eines dummen Traumes solche Angst habe.«
    »Wie sieht das Blau aus? So?« Er zeigte auf ein Schild, das für im Café erhältliches Eis warb. Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, das ist zu hell. Ich meine, das Blau im Traum ist auchhell. Sehr lebendig. Aber es ist hell und gleichzeitig so dunkel wie kein anderes. Ich kenne die technischen Ausdrücke, es zu beschreiben, nicht. Es reflektiert viel Licht. Es ist schön, aber im Traum macht es mich traurig. Auch freudig erregt. Es ist, als ob es in dieser Farbe zwei Seiten gäbe. Es ist merkwürdig, daß ich mich an die Farbe erinnere. Ich habe immer gedacht, daß ich in Schwarz-Weiß träume.«
    »Und die Stimmen? Wer sind sie?«
    »Ich weiß nicht. Manchmal ist es meine eigene Stimme. Manchmal wache ich auf und ich habe gerade diese Worte gesagt. Ich kann sie beinahe noch hören.«
    »Was für Worte? Was ist es, was Sie sagen?«
    Eine Minute lang dachte ich nach, schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht mehr.«
    Er fixierte mich. »Versuchen Sie es. Schließen Sie die Augen.«
    Ich tat, was er sagte, saß still, Jean-Paul schweigend neben mir. Gerade, als ich aufgeben wollte, schwebte ein Fetzen in mein Gedächtnis. »Je suis un pot cassé« , sagte ich plötzlich.
    Ich öffnete die Augen. »Ich bin ein zerbrochener Krug? Woher kommt das denn?«
    Jean-Paul sah überrascht aus. »Können Sie sich an noch mehr erinnern?«
    Ich schloß die Augen erneut. »Tu es ma tour et forteresse«, murmelte ich schließlich.
    Ich öffnete die Augen. Jean-Pauls Gesichtsausdruck war konzentriert, und er schien weit weg zu sein. Ich konnte sein Gedächtnis arbeiten sehen, eine große Gedächtnisfläche absuchend, prüfend, verwerfend, bis etwas klickte und er sich mir wieder zuwandte. Er richtete den Blick auf die Eisreklame und rezitierte:

    Entre tous ceux-là qui me haient
    Mes voisins j’aperçois
    Avoir honte de moi:
    Il semble que mes amis aient
    Horreur de ma recontre,
    Quand dehors je me montre.
    Je suis hors de leur souvenance,
    Ainsi qu’un trespassé.
    Je suis un pot cassé.
    Als er sprach, spürte ich einen Druck in der Kehle und hinter den Augen.
    Es war Trauer.
    Ich hielt mich an den Armlehnen des Stuhls fest, preßte meinen Körper fest gegen die Rückenlehne, als würde ich mich wappnen. Als er zu Ende gesprochen hatte, schluckte ich, um sprechen zu können.
    »Was ist das?« fragte ich leise.
    »Der einunddreißigste Psalm.«
    Ich runzelte die Stirn. »Ein Psalm? Aus der Bibel?«
    Er lächelte angespannt. »Ja.«
    »Aber woher könnte ich ihn kennen? Ich weiß keine Psalmen auswendig! Kaum auf Englisch und ganz sicher nicht auf Französisch. Aber diese Worte scheinen so vertraut. Ich muß ihn irgendwo gehört haben. Woher kennen Sie ihn?«
    »Aus der Kirche. Als Kind mußten wir viele Psalmen auswendiglernen. Aber es war auch einmal Teil meines Studiums.«
    »Sie haben Psalmen studiert für ein Diplom in Bibliothekswesen?«
    »Nein, nein, vorher, als ich Geschichte studiert habe. Die Geschichte des Languedoc. Das ist nämlich, was mich wirklich interessiert. Meine wahre Liebe.«
    »Was

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