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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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war, zu verbergen. Ich ging ziellos in den beiden Räumen umher, während der Blick der Bibliothekarin mir folgte. Schließlich fragte ich sie, ob Jean-Paul irgendwann an diesem Tag kommen würde. »Oh, nein«, erwiderte sie mit einem leichten Stirnrunzeln. »Er wird ein paar Tage weg sein. Er ist nach Paris gefahren.«
    »Paris? Warum das denn?«
    Sie sah überrascht aus, daß ich so etwas fragte. »Na, seine Schwester heiratet. Er kommt erst nach dem Wochenende zurück.«
    »Oh. Merci «, sagte ich und ging. Es war komisch, sich ihn mit einer Schwester, einer Familie vorzustellen. Verdammt, dachte ich, als ich die Treppen hinunter und auf den Platz hinaus stapfte. Madame aus der boulangerie stand neben dem Brunnen und sprach mit der Frau, die mich zuerst zur Bibliothek geführt hatte. Beide unterbrachen ihr Gespräch und starrten mich lange an, bevor sie sich wieder einander zuwandten. Ach, zum Teufel mit euch, dachte ich. Noch nie hatte ich mich so isoliert und fehl am Platz gefühlt.
    An diesem Sonntag waren wir zum Mittagessen bei einem von Ricks Kollegen eingeladen, das erste Mal, daß wir uns wirklich mit anderen Leuten trafen, seit wir nach Frankreich gezogen waren, wenn man von einem gelegentlichen Drink mit Leuten, die Rick durch die Arbeit kennengelernt hatte, absah. Ich warnervös wegen der Einladung und konzentrierte meine Sorgen darauf, was ich anziehen sollte. Ich hatte keine Ahnung, was ein Mittagessen am Sonntag in Frankreich bedeutete, ob es formell oder eher leger zuging.
    »Soll ich ein Kleid anziehen?« plagte ich Rick.
    »Zieh an, was du willst«, erwiderte er hilfreich. »Denen macht das nichts aus.«
    Aber mir, dachte ich, mir macht es was aus, wenn ich falsch angezogen bin.
    Natürlich gab es auch noch das zusätzliche Problem mit meinen Armen – es war ein heißer Tag, aber ich hätte verstohlene Blicke auf meinen Ausschlag nicht ertragen. Schließlich wählte ich ein steingraues ärmelloses Kleid, das bis zu den Waden reichte, und ein weißes Leinenjackett. Ich dachte, daß dieses Outfit zu mehr oder weniger jedem Anlaß paßte, aber als das Paar die Tür zu ihrem großen Vorstadt-Haus öffnete und ich Chantals Jeans und weißes T-Shirt sowie Oliviers Khaki-Shorts wahrnahm, fühlte ich mich übertrieben aufgetakelt und gleichzeitig bieder. Sie lächelten mich höflich an und lächelten ebenso höflich über die Blumen und den Wein, den wir mitgebracht hatten, aber mir fiel auf, daß Chantal die Blumen eingewickelt auf einer Kommode im Eßzimmer liegen ließ, und unsere sorgfältig ausgewählte Flasche Wein tauchte nicht wieder auf.
    Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die so still und höflich waren, daß ich nicht einmal ihre Namen erfuhr. Nach dem Essen standen sie auf und verschwanden ins Innere des Hauses, als ob sie durch ein magisches Glöckchen gerufen worden wären, das nur Kinder hören können. Wahrscheinlich sahen sie fern, und ich wünschte insgeheim, daß ich das auch tun könnte: Ich fand die Unterhaltung mit den Eltern ermüdend und manchmal geradezu demoralisierend. Rick und Olivier verbrachten die meiste Zeit damit, Dinge aus der Firma zu besprechen, und zwar auf englisch. Chantal und ich schwatzten ineiner merkwürdigen Mischung aus Französisch und Englisch. Ich versuchte, nur französisch mit ihr zu sprechen, aber sie wechselte immer wieder ins Englische, sobald sie den Eindruck hatte, daß ich nicht nachkam. Es wäre unhöflich gewesen, auf französisch weiterzusprechen, also wechselte ich auch ins Englische, bis es eine Pause im Gespräch gab; dann fing ich ein neues Thema auf französisch an. Es wurde ein höflicher Kampf zwischen uns; ich hatte den Eindruck, daß sie ein stilles Vergnügen daran fand, durchblicken zu lassen, wie gut ihr Englisch im Vergleich zu meinem Französisch war. Und für Small-talk war sie nicht zu haben, innerhalb von zehn Minuten hatte sie die meisten der großen Konflikte in aller Welt durch – Bosnien, Israel, Nordirland – und blickte verächtlich, wenn ich nicht sofort eine entschiedene Antwort für jedes Problem parat hatte.
    Sowohl Olivier als auch Chantal hingen an Ricks Lippen, obwohl ich mich viel mehr bemühte, mit ihnen in ihrer Sprache zu sprechen. Mir hörten sie kaum zu. Ich fand es gräßlich, daß ich jetzt schon meinen Erfolg mit dem Ricks verglich: So etwas hatte ich in den Staaten nie getan.
    Am späten Nachmittag gingen wir wieder, nach höflichen Küßchen und Versprechungen, sie nach Lisle

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