Das dunkelste Blau
ist Languedoc?«
»Die Gegend um uns herum. Von Toulouse und den Pyrenäen bis hinauf zur Rhône.« Er malte einen weiteren Kreis auf seine Servietten-Landkarte, der den kleineren Kreis der Cevennenund den größten Teil des Kuhnackens und des Kuhmauls umfaßte. »Sie wurde nach der Sprache, die dort einmal gesprochen wurde, benannt. Oc war deren Wort für oui . Langue d’oc – Sprache des oc. «
»Was hat der Psalm mit dem Languedoc zu tun?«
Er zögerte. »Nun ja, das ist seltsam. Es war ein Psalm, den die Hugenotten immer sprachen in Momenten der Gefahr.«
An diesem Abend nach dem Essen erzählte ich Rick schließlich doch von dem Traum, beschrieb das Blau, die Stimmen, die Atmosphäre, so genau ich konnte. Ich ließ auch ein paar Dinge aus: Ich erzählte ihm nicht, daß ich das alles schon mit Jean-Paul besprochen hatte, daß die Worte zu einem Psalm gehörten, daß der Traum immer kam, wenn wir miteinander geschlafen hatten. Weil ich auswählen mußte, was ich ihm erzählte, war der Prozeß viel bewußter und lange nicht so therapeutisch wie mit Jean-Paul, wo alles unreflektiert herausgekommen war. Jetzt mußte ich den Traum zu einer Geschichte formen, und dadurch fing er an, sich von mir abzulösen und eine Art Eigenleben zu entwickeln.
Rick reagierte auch entsprechend. Vielleicht hatte es damit zu tun, wie ich den Traum erzählte, aber er hörte zu, als würde er mit halbem Ohr auf etwas anderes achten, ein Radio im Hintergrund oder eine Unterhaltung auf der Straße. Er stellte keine Fragen, wie Jean-Paul das getan hatte.
»Rick, hörst du mir überhaupt zu?« fragte ich schließlich und zog ihn am Pferdeschwanz.
»Natürlich. Du hattest Alpträume. Von der Farbe Blau.«
»Ich will nur, daß du Bescheid weißt. Deshalb war ich immer so müde.«
»Du solltest mich wecken, wenn du geträumt hast.«
»Ich weiß.« Aber ich wußte, daß ich das nicht tun würde. In Kalifornien hätte ich ihn beim allerersten Auftauchen des Traumes geweckt. Irgend etwas hatte sich verändert; nachdem Rick wie immer zu sein schien, mußte ich es sein.
»Wie geht’s mit der Lernerei?«
Ich zuckte die Achseln, irritiert, daß er das Thema gewechselt hatte. »Geht so. Nein. Furchtbar. Nein. Ich weiß nicht. Manchmal frage ich mich, wie ich jemals Babys auf französisch auf die Welt bringen kann. Ich konnte nicht das Richtige sagen, als dieses Baby fast erstickt ist. Wenn ich nicht mal das zustande bringe, wie kann ich dann jemals eine Frau durch die Wehen begleiten?«
»Aber du hast zu Hause spanische Frauen entbunden und es gut hingekriegt.«
»Das ist was anderes. Die haben vielleicht kein Englisch gesprochen, aber sie haben auch nicht von mir erwartet, daß ich Spanisch spreche. Und hier wird die gesamte ärztliche Ausrüstung, alle Medikamente und Dosierungen, alles wird auf französisch sein.«
Rick schob seinen Teller zur Seite und beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch aufgestützt. »Hey, Ella, wo ist dein Optimismus geblieben? Fang bloß nicht an, dich wie die Franzosen zu benehmen, davon krieg ich schon in der Arbeit genug.«
Obwohl ich selbst gerade erst Jean-Pauls Pessimismus kritisiert hatte, ertappte ich mich dabei, wie ich genau seine Worte benutzte. »Ich versuche nur, realistisch zu sein.«
»Ja, das hab ich im Büro auch gehört.«
Ich öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, hielt mich aber gerade noch zurück. Es stimmte, daß mein Optimismus in Frankreich verkümmert war; vielleicht paßte ich mich wirklich der zynischen Art der Leute um mich herum an. Rick gab allem eine positive Wendung; seine positive Einstellung hatte ihm den Erfolg gebracht. Deswegen hatte die französische Firma sich an ihn gewandt; deswegen waren wir hier. Ich schluckte meine pessimistische Bemerkung hinunter.
In dieser Nacht schliefen wir miteinander, und Rick vermied es vorsichtig, meine Schuppenflechte zu berühren. Danach lag ich wach und wartete geduldig auf den Schlaf und den Traum.Als er kam, war er weniger impressionistisch, realer als je zuvor. Das Blau hing über mir wie ein leuchtendes Tuch, wogte hin und her und nahm Gestalt und Form an. Ich erwachte in Tränen, die meine Wangen hinunterliefen, und hörte meine Stimme in den Ohren nachklingen. Ich lag still.
»Ein Kleid«, flüsterte ich. »Es war ein Kleid.«
Am nächsten Morgen eilte ich zur Bibliothek. Die Frau war hinter dem Schalter, und ich mußte mich abwenden, um meine Enttäuschung und Verärgerung darüber, daß Jean-Paul nicht da
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