Das dunkelste Blau
reden, aber ohne Erfolg. Hannah sprach gar nicht, und Etienne sagte nur, ich habe Durst, oder ich bin müde, und schloß die Augen.
Schließlich rüttelte Isabelle sie auf, indem sie verzweifelt rief: – Wir müssen hier fort. Die Soldaten werden immer noch nach uns suchen, und irgendwann wird ihnen jemand sagen, daß sie hier nachsehen sollen.
Sie kannte die Dorfbewohner: Sie waren loyal. Wenn sie allerdings genug angeboten bekämen, oder genug bedroht würden, dann würden sie ein Geheimnis verraten, sogar einem Katholiken.
– Wohin sollen wir denn gehen? fragte Etienne.
– Ihr könntet euch im Wald verstecken, bis es sicher genug ist, zurückzukommen, schlug Henri du Moulin vor.
– Dorthin können wir nicht zurück, erwiderte Isabelle. Die Ernte ist verloren, das Haus ist weg. Ohne den Duc haben wir keinen Schutz vor den Katholiken. Sie werden weiter nach uns suchen. Und – Sie zögerte, sie wollte sie mit ihren eigenen Worten überzeugen – ohne das Haus gibt es keinen Schutz mehr.
Und ich will nicht in dieses Elend zurück, fügte sie stumm hinzu.
Etienne und seine Mutter sahen sich an.
– Wir könnten nach Alès gehen, fuhr Isabelle fort. Und uns Susanne und Bertrand anschließen.
– Nein, sagte Etienne fest. Sie haben sich entschieden. Sie haben die Familie verlassen.
– Aber sie – Isabelle brach ab, um nicht durch einen Streit den wenigen Einfluß, den sie jetzt hatte, zu verlieren. Sie hatte eine plötzliche Vision von Susannes Bauch, wie er auf dem Feld von einem Soldaten aufgeschlitzt wurde, und sie wußte, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.
– Die Straße nach Alès ist gefährlich, sagte ihr Vater. Dort könnte passieren, was hier passiert ist.
Die Kinder hatten still zugehört. Dann sprach Marie.
– Maman, wo können wir sicher sein? fragte sie. Sag Gott, daß wir sicher sein wollen.
Isabelle nickte.
– Calvin, verkündete sie. Wir können zu Calvin gehen. Nach Genf, wo es sicher ist. Wo die Wahrheit frei ist.
Ungeduldig warteten sie bis zum Anbruch der Nacht. Isabelle ließ die Kinder das Haus säubern, während sie soviel Brot buk, wie es im Kamin nur ging. Sie und ihre Schwester und Mutter hatten das Kaminbord täglich benutzt; jetzt mußte sie Mäusedreck und Spinnweben abwischen. Die Feuerstelle sah unbenutzt aus, und sie fragte sich, was ihr Vater wohl aß.
Henri du Moulin weigerte sich mitzukommen, obwohl seine Verbindung mit den Tourniers ihn gefährdete.
– Das ist mein Hof, sagte er rauh. Kein Katholik wird mich hier vertreiben.
Er bestand darauf, daß sie seinen Karren mitnahmen, das einzige wertvolle Stück, das er außer seinem Pflug noch besaß. Er säuberte ihn, reparierte ein Rad und setzte die Sitzplanke wieder ein. Bei Anbruch der Dunkelheit zog er ihn in den Hof und belud ihn mit einer Axt, drei Decken und zwei Säcken.
– Kastanien und Rüben, erklärte er Isabelle.
– Rüben?
– Für das Pferd und für euch.
Hannah hörte ihn und erstarrte. Petit Jean, der das Pferd aus dem Stall holte, lachte.
– Menschen essen keine Rüben, Großvater! Nur arme Bettler.
Isabelles Vater ballte die Hände zu Fäusten.
– Du wirst noch dankbar genug sein, sie zu essen zu haben, mon petit . Alle Menschen sind arm vor Gott.
Als sie fertig waren, sah Isabelle ihren Vater an und versuchte sich jedes Detail seines Gesichtes für immer einzuprägen.
– Sei vorsichtig, Papa, flüsterte sie. Die Soldaten kommen vielleicht hierher.
– Ich werde für die Wahrheit kämpfen, erwiderte er. Ich habe keine Angst. Er sah sie an, und mit einem kurzen Heben des Kinns fügte er hinzu: – Courage , Isabelle.
Sie zwang ihre Mundwinkel in ein Lächeln, das die Tränen zurückhielt, legte dann die Hände auf seine Schultern und küßte ihn dreimal, auf Zehenspitzen.
– Bah, du hast dir den Tournierschen Kuß angewöhnt, brummte er.
– Schsch, Papa. Ich bin jetzt eine Tournier.
– Aber dein Name ist immer noch du Moulin. Vergiß das nicht.
– Nein. Sie wartete einen Augenblick. Denk an mich.
Marie, die niemals weinte, weinte eine Stunde lang, nachdem sie ihn auf der Straße zurückgelassen hatten.
Das Pferd konnte sie nicht alle ziehen. Hannah und Marie saßen auf dem Karren, während die anderen hinterhergingen und Etienne oder Petit Jean das Pferd führten. Ab und zu setzte sich einer von ihnen mit auf den Karren, um sich auszuruhen, und dann trottete das Pferd langsamer weiter. Sie nahmen die Straße über den Mont Lozère, der Mond schien
Weitere Kostenlose Bücher