Das dunkelste Blau
gekommen, fand Daten und identifizierte einige Wörter als Namen.
Ich sah zu ihr auf. »Ist das hier Französisch?«
»Altfranzösisch.«
»Oh.« Daran hatte ich nicht gedacht.
Sie ließ einen rosafarbenen Fingernagel ein paar Zeilen entlanggleiten.»Eine schwangere Frau ertrank im Fluß Lot, Mai 1574 . Une inconnue, la pauvre«, murmelte sie. »Diese Toten nützen Ihnen nicht soviel, richtig?«
»Ich denke nicht«, sagte ich und nieste auf das Buch.
Die Frau lachte, als ich mich entschuldigte. »Alle niesen hier. Sehen Sie, überall Taschentücher!« Wir hörten ein winziges Niesen von einem alten Mann auf der anderen Seite des Raumes und kicherten.
»Machen Sie eine Pause von diesem Staub«, sagte sie. »Kommen Sie mit mir einen Kaffee trinken. Ich heiße Mathilde.« Sie streckte die Hand aus und grinste. »So machen es doch die Amerikaner, oder? Sie schütteln die Hände, wenn sie sich zum ersten Mal treffen?«
Wir setzten uns in ein Café um die Ecke und redeten bald wie alte Freundinnen miteinander. Obwohl sie unglaublich schnell sprach, war es leicht, sich mit Mathilde zu unterhalten. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr ich die Gesellschaft einer Frau vermißt hatte. Sie fragte mich tausend Dinge über die USA, besonders Kalifornien.
»Was machst du hier bloß?« seufzte sie schließlich. »Ich würde auf der Stelle nach Kalifornien gehen!«
Ich dachte angestrengt über eine Antwort nach, die klarstellen würde, daß ich nicht einfach Rick nach Frankreich gefolgt war, wie Jean-Paul es aufgefaßt hatte. Aber Mathilde sprach einfach weiter, bevor ich überhaupt antworten konnte, und mir wurde klar, daß sie keine Erklärung von mir erwartete.
Sie war gar nicht überrascht, daß ich mich für entfernte Vorfahren interessierte. »Die Leute forschen die ganze Zeit in ihrer Familiengeschichte«, sagte sie.
»Ich komme mir ein bißchen merkwürdig vor, so was zu machen«, gestand ich. »Es ist so unwahrscheinlich, daß ich je etwas finden werde.«
»Stimmt«, gab sie zu. »Um ehrlich zu sein, die meisten Leute finden nichts, wenn sie so weit zurückgehen. Aber laß dich bloßnicht entmutigen. Die Dokumente sind doch so oder so interessant, nicht?«
»Ja, aber es dauert so ewig, bis ich verstehe, was darin steht! Das einzige, was ich wirklich erkennen kann, sind Daten und manchmal Namen.«
Mathilde lächelte. »Wenn du denkst, daß das Buch schwer zu lesen ist, warte, bis du die Microfiches siehst!« Sie lachte, als sie mein Gesicht sah. »Ich hab heute nicht so viel zu tun«, fuhr sie fort. »Du liest weiter dein Buch, und ich seh die Microfiches für dich durch. Ich bin diese alte Handschrift gewöhnt.«
Ich war dankbar für ihr Angebot. Während sie am Microfiche-Lesegerät saß, beschäftigte ich mich mit der Schachtel, die, wie Mathilde mir erklärte, compoix enthielt, Verzeichnisse von Steuern und Ernteabgaben. Auch hier war alles in der unleserlichen Handschrift und fast unverständlich. Ich verwandte den Rest des Tages darauf, es durchzusehen. Zum Schluß war ich erschöpft, aber Mathilde schien enttäuscht, daß es nichts anderes zu untersuchen gab.
»Ist das wirklich alles?« fragte sie und ging noch einmal durch den Katalog. » Attends , es gibt ein Buch mit compoix von 1570 bei der mairie in Le Port de Montvert. Natürlich, Monsieur Jourdain! Ich habe ihm vor einem Jahr geholfen, diese Dokumente zu katalogisieren.«
»Wer ist Monsieur Jourdain?«
»Der Archivar bei der mairie .«
»Meinst du, daß es sich lohnt, dort hinzufahren?«
» Bien sûr . Auch wenn du nichts findest, denn Le Pont de Montvert ist ein hübscher Ort. Es ist ein kleines Dorf am Fuß der Mont Lozère.« Sie sah auf die Uhr. » Mon Dieu – ich muß Sylvie abholen!« Sie griff nach ihrer Tasche und schob mich hinaus. Sie kicherte, als sie die Tür hinter mir abschloß. »Du wirst deine Freude haben mit Monsieur Jourdain – wenn er dir nicht den Kopf abreißt, heißt das!«
Am nächsten Morgen fuhr ich früh los und nahm die malerische Route nach Le Pont de Montvert. Als ich die Straße zum Mont Lozère hinauffuhr, wurde die Landschaft offener und heller, aber auch karger. Ich kam durch winzige, verstaubte Dörfer, wo die Gebäude ganz aus Granit waren, bis hin zu den Dachziegeln, und kaum Farben hatten, die sie von der umliegenden Landschaft abgehoben hätten. Viele Häuser waren verlassen, die Dächer eingefallen, die Kamine abgebröckelt, und die Fensterläden hingen lose herunter. Ich sah wenig Menschen, und
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