Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
fühlte mich wie so oft in Lisle: Als Ausländerin war mein Platz am Rand, wo ich die Einheimischen zwar beobachten und bewundern, aber nie selbst am Geschehen teilnehmen konnte.
    Eine große Frau, die am Ausgabetisch stand, sah zu mir herüber und lächelte mir zu. Sie war ungefähr in meinem Alter, mit blondem kurzem Haar und einer gelben Brille. Zum Glück nicht noch eine Madame, dachte ich. Ich ging zum Schalter und stellte meine Tasche ab. »Ich weiß nicht, wo ich hier anfangen soll«, sagte ich. »Können Sie mir bitte helfen?«
    Ihr Lachen war ein höchst unerwartetes Gekreisch an einem so stillen Ort.
    » Alors , was suchen Sie?« fragte sie und lachte immer noch, die blauen Augen durch die dicken Brillengläser vergrößert. Ich hatte noch nie jemanden so stilvoll eine dicke Brille tragen sehen.
    »Ich habe einen Vorfahren, der Etienne Tournier heißt und der im sechzehnten Jahrhundert wahrscheinlich in den Cevennen gelebt hat. Ich möchte mehr über ihn herausfinden.«
    »Wissen Sie, wann er geboren wurde oder gestorben ist?«
    »Nein. Ich weiß, daß die Familie irgendwann in die Schweiz gezogen ist, aber ich weiß nicht, wann genau das war. Es muß vor 1576 gewesen sein.«
    »Sie wissen keine Geburts- oder Todesdaten? Auch nicht von seinen Kindern oder Enkeln?«
    »Er hatte einen Sohn, Jean, dessen Kind wurde 1590 geboren.«
    Sie nickte. »Also wurde der Sohn Jean zwischen, sagen wir, 1550 und 1575 geboren, und der Vater Etienne zwanzig bis vierzig Jahre davor, sagen wir ab 1510 . Also suchen Sie zwischen 1510 und 1575 , so in etwa, richtig?«
    Sie sprach so schnell, daß ich ihr nicht sofort antworten konnte, ich schwamm etwas in ihren Berechnungen. »Ich denke, ja«, erwiderte ich schließlich und fragte mich gleichzeitig, ob ich die Tournier-Maler auch erwähnen sollte, Nicolas und André und Claude.
    Sie gab mir keine Gelegenheit dazu. »Sie sollten also nach Einträgen von Taufen, Heiraten und Todesfällen suchen«, erklärte sie. »Und vielleicht auch compoix , Steuerdokumente. Also, aus welchem Dorf kamen sie?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Ah, das ist ein Problem. Die Cevennen sind groß, wissen Sie. Natürlich gibt es nicht sehr viele Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Damals wurden sie von der Kirche geführt, aber viele sind verbrannt oder gingen während der Religionskriege verloren. Also vielleicht gibt es gar nicht so viel, was Sie durchsehen können. Wenn Sie das Dorf wüßten, könnte ich Ihnen sofort sagen, was wir haben, aber macht nichts, sehen wir mal, was wir finden.«
    Sie ging ein Verzeichnis der Dokumente durch, die hier und in anderen Archiven des département gelagert waren. Sie hatte recht: Von der ganzen Region gab es nur eine Handvoll Dokumente aus dem sechzehnten Jahrhundert. Diese wenigen Dokumente mußten rein zufällig erhalten geblieben sein. Es warklar, daß das Auftauchen eines Tourniers darin ein purer Glücksfall wäre.
    Ich bestellte die entsprechenden Dokumente, die in den von ihr errechneten Zeitraum fielen und hier aufbewahrt wurden. Ich war mir nicht sicher, was auf mich zukommen würde: Ich hatte den Begriff »Dokument« oder »Aufzeichnung« recht sorglos verwendet und etwas aus dem sechzehnten Jahrhundert erwartet, das meiner sauber getippten Geburts- und Heiratsurkunde glich. Fünf Minuten später brachte die Archivarin ein paar Kartons mit Microfiches, ein Buch, das in schützendes Packpapier eingebunden war, und eine riesige Schachtel. Sie lächelte ermutigend und stellte mir alles hin. Ich betrachtete sie, als sie zum Schalter zurückging, und mußte heimlich grinsen über ihre Plateauschuhe und ihren kurzen Lederrock.
    Ich fing mit dem Buch an. Es war in fettiges, cremefarbenes Kalbsleder gebunden, und die Vorderseite war mit alten Noten und lateinischem Text bemalt. Der erste Buchstabe jeder Zeile war größer gestaltet und rot und blau ausgemalt. Ich öffnete es auf der ersten Seite und strich darüber; wie aufregend es war, etwas so Altes zu berühren. Die Handschrift war in brauner Tinte, und obwohl sie sehr gleichmäßig war, schien sie eher dazu gedacht, bewundert als gelesen zu werden: Ich konnte kein Wort entziffern. Mehrere Buchstaben waren geradezu identisch, und als ich endlich hier und da ein paar Wörter erkannte, merkte ich, daß mir das gar nichts nützte – es war alles in einer fremden Sprache.
    Dann fing ich an zu niesen.
    Die Archivarin kam zwanzig Minuten später herüber, um zu sehen, wie ich vorankam. Ich war zehn Seiten weit

Weitere Kostenlose Bücher