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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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ein Haufen ungeöffneter Briefe war über den Schreibtisch verstreut, alle waren an Abraham Jourdain adressiert.
    Nach zehn Minuten kam er mit einer großen Schachtel zurück und ließ sie mit einem Plumps auf den Tisch fallen. Dann ging er wortlos und ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen hinaus.
    In der Schachtel lag ein Buch, das dem compoix in Mende ähnelte, aber größer und in schlechterem Zustand war. Der kalbslederne Einband war so abgegriffen, daß er die Seiten nichtmehr zusammenhielt. Ich ging mit dem Buch so vorsichtig wie möglich um, aber die Seiten waren so porös, daß trotzdem winzige Stückchen von den Ecken abbröckelten. Ich versteckte die Bruchstücke heimlich in meinen Taschen, aus Angst, daß Monsieur Jourdain sie finden und mich anschreien würde.
    Mittags warf er mich hinaus. Ich hatte kaum eine Stunde lang gearbeitet, als er in der Tür erschien, mich anstarrte und dann etwas grummelte. Ich konnte nur erraten, was er meinte, weil er auf seine Uhr klopfte. Er stapfte zum Flur, um die Eingangstür aufzureißen, knallte sie dann hinter mir zu und schob den Riegel vor. Ich blinzelte in die Sonne, mir war leicht schwindelig nach dem dunklen, staubigen Raum.
    Dann war ich plötzlich von Kindern umringt, die aus einem Spielplatz nebenan herausströmten.
    Ich atmete tief ein. Gott sei Dank, dachte ich.
    Ich kaufte ein paar Sachen zum Mittagessen, kurz bevor die Läden zumachten: Käse und Pfirsiche und etwas dunkles rotes Brot, von dem der Ladenbesitzer mir erzählte, es sei eine hiesige Spezialität und aus Kastanien gebacken. Ich nahm einen Weg, der zwischen steinernen Häusern zur Kirche oberhalb des Dorfes führte.
    Es war ein schlichtes Steingebäude, beinahe so breit wie hoch. Die Vordertür war verschlossen, aber an der Seite fand ich eine offene Tür mit dem Datum 1828 darüber, und ich trat ein. Der Raum war voller leerer Holzbänke. An den beiden Längsseiten befanden sich Emporen. Es gab eine hölzerne Orgel, ein Lesepult und einen Tisch mit einer großen Bibel darauf. Das war alles. Keine Ornamente, keine Statuen oder Kreuze, kein Fenster mit Glasmalerei. Es gab nicht einmal einen Altar, um den Platz des Pfarrers von dem der Leute abzuheben.
    Ich ging zur Bibel hinüber, dem einzigen Gegenstand, der über das rein Funktionale hinausging. Sie sah alt aus, aber nicht so alt wie die compoix , die ich mir angesehen hatte. Ich begann sie durchzublättern. Es dauerte eine Zeitlang – ichwußte die Reihenfolge der Bücher in der Bibel nicht –, aber schließlich fand ich, was ich gesucht hatte. Ich fing an, den einunddreißigsten Psalm zu lesen: J’ai mis en toi mon espérance: Garde-moi donc, Seigneur. Als ich in der ersten Zeile der dritten Strophe angekommen war, Tu es ma tour et forteresse, waren meine Augen voller Tränen. Ich hörte abrupt auf und floh nach draußen.
    Dummes Mädchen, schalt ich mich, als ich auf der Kirchenmauer saß und mir die Augen wischte. Ich zwang mich, etwas zu essen, und blinzelte in das helle Sonnenlicht. Das Kastanienbrot war süß und trocken, und steckte mir im Hals. Ich spürte es dort den ganzen restlichen Tag lang.
    Als ich zurückkam, saß Monsieur Jourdain hinter seinem Tisch und hatte die Hände vor sich gefaltet. Er las seine Zeitung nicht; eigentlich sah es so aus, als hätte er auf mich gewartet. Vorsichtig sagte ich: »Bonjour, Monsieur. Darf ich bitte die compoix haben?«
    Er öffnete einen Aktenschrank neben seinem Schreibtisch, holte die Schachtel heraus und gab sie mir. Dann musterte er mein Gesicht genau.
    »Wie heißen Sie?« fragte er in verwundertem Ton.
    »Tournier, Ella Tournier.«
    »Tournier«, wiederholte er, während er mich weiter ansah. Er verzog den Mund und kaute auf der Innenseite seiner Backe herum, dabei starrte er mein Haar an. »La Rousse«, murmelte er.
    »Was?« fuhr ich ihn an. Plötzlich überkam mich eine Gänsehaut.
    Monsieur Jourdains Augen weiteten sich, dann streckte er den Arm aus und berührte eine meiner Haarlocken. »C’est rouge. Alors, La Rousse.«
    »Aber mein Haar ist braun, Monsieur.«
    »Rouge«, wiederholte er fest.
    »Natürlich nicht. Es ist –« Ich zog eine Haarsträhne vor meine Augen und hielt den Atem an. Er hatte recht: Es war kupfern durchzogen. Aber es war braun gewesen, als ich am selben Morgen in den Spiegel gesehen hatte. Die Sonne hatte auch früher schon helle Strähnen in meinem Haar aufleuchten lassen, aber noch nie so plötzlich und so intensiv.
    »Was ist La Rousse?« fragte

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