Das dunkelste Blau
er sprach nichts davon aus; statt dessen sah er sich meine Haare intensiv an. »Ihr Haar wird rot«, stellte er fest.
»Ja.« Ich lächelte ihn an. Er hatte es genau richtig gesagt: Keine Fragen, kein Vorwurf. Einen Augenblick lang schienen Rick und der Markt zu verschwinden.
Rick ließ seine Hand an meinem Rücken hinaufgleiten, um sieauf meiner Schulter ruhen zu lassen. Ich lachte nervös und sagte: »Na ja, also, wir müssen weiter. Schön, Sie zu sehen.«
» Au revoir, Ella Tournier«, sagte Jean-Paul.
Rick und ich sagten ein paar Minuten lang kein Wort. Ich tat so, als sei ich völlig vom Honigkauf in Anspruch genommen, und Rick wog Auberginen in den Händen.
Schließlich sagte er: »Das ist er also, hm?«
Ich sah ihn an. »Das ist der Bibliothekar, Rick. Das ist alles.«
»Versprochen?«
»Ja.« Es war lange her, daß ich ihn angelogen hatte.
Eines Nachmittags kam ich vom Yoga zurück, als ich von der Straße aus das Telefon klingeln hörte. Ich rannte hin und brachte nur ein atemloses »Hallo?« heraus, bevor eine hohe, aufgeregte Stimme so schnell sprach, daß ich mich hinsetzen und warten mußte, bis sie fertig war. Endlich warf ich auf französisch ein: »Wer spricht denn da?«
»Mathilde, hier ist Mathilde. Hör zu, es ist wundervoll, du mußt es sehen!«
»Mathilde, langsam, ich versteh kein Wort. Was ist wundervoll?«
Mathilde atmete tief ein. »Wir haben etwas über deine Familie gefunden, über die Tourniers.«
»Warte. Wer ist ›wir‹?«
»Monsieur Jourdain und ich. Erinnerst du dich, ich habe dir erzählt, daß ich schon mal mit ihm gearbeitet habe, in Le Pont de Montvert?«
»Ja.«
»Nun, ich habe heute nicht im Archiv gearbeitet, also dachte ich mir, ich fahre hinauf und besuche ihn, sehe mir das Zimmer an, von dem du mir erzählt hast. Was für ein Misthaufen! Also haben Monsieur Jourdain und ich angefangen, die Sachen durchzugehen. Und in einer der Bücherkisten hat er deine Familie gefunden!«
»Was meinst du damit? Ein Buch über meine Familie?«
»Nein, nein, ins Buch hineingeschrieben. Es ist eine Bibel. Die erste Seite von einer Bibel. Da haben Familien Geburten und Todesfälle und Heiraten eingetragen, in ihre Bibel, wenn sie eine hatten.«
»Aber wieso lag sie da herum?«
»Gute Frage. Er ist schrecklich, Monsieur Jourdain. Diese ganzen wertvollen Dinge, die er einfach so herumliegen läßt! Anscheinend hat jemand eine ganze Kiste alter Bücher gebracht. Es ist alles mögliche dabei, alte Aufzeichnungen von der Gemeinde, alte Schuldscheine, aber die Bibel ist am wertvollsten. Na ja, vielleicht nicht ganz so wertvoll, in diesem Zustand.«
»Was ist damit los?«
»Sie ist verbrannt. Die meisten Seiten sind schwarz. Aber viele Tourniers sind darin aufgeführt. Es sind deine Tourniers, Monsieur Jourdain ist ganz sicher.«
Ich schwieg. Das mußte ich erst einmal verarbeiten.
»Also, kannst du kommen und sie dir ansehen?«
»Natürlich. Wo bist du?«
»Immer noch in Le Pont de Montvert. Aber ich kann dich irgendwo auf halbem Weg treffen. Treffen wir uns in Rodez, in, warte, drei Stunden.« Sie dachte einen Moment nach. »Ich weiß. Wir können uns in Crazy Joe’s Bar treffen. Es ist in der Altstadt, gleich um die Ecke vom Dom. Es ist amerikanisch, also kannst du einen Martini trinken!« Sie kreischte vor Lachen und legte auf.
Als ich aus Lisle herausfuhr, kam ich am hôtel de ville vorbei. Fahr weiter, Ella, dachte ich. Er hat damit nichts zu tun.
Ich hielt an, sprang heraus, rannte in das Gebäude und die Treppen hinauf. Ich öffnete die Bibliothekstür und steckte den Kopf hinein. Jean-Paul saß allein hinter dem Schalter und las. Er sah zu mir hoch, bewegte sich aber ansonsten nicht.
Ich blieb in der Tür stehen. »Haben Sie zu tun?« fragte ich.
Er zuckte die Achseln. Nach der Szene auf dem Markt vor ein paar Tagen war seine Distanz nicht verwunderlich.
»Ich habe etwas gefunden«, sagte ich leise. »Oder ich sollte eigentlich sagen, jemand anderes hat etwas für mich gefunden. Konkretes Beweismaterial. Etwas, was Ihnen gefallen wird.«
»Hat das mit Ihrem Maler zu tun?«
»Ich glaube nicht. Kommen Sie mit, und Sie werden es sehen.«
»Wohin?«
»Sie haben es in Le Pont de Montvert gefunden, aber ich treffe sie in Rodez.« Ich sah zu Boden. »Ich möchte gern, daß Sie mitkommen.«
Jean-Paul betrachtete mich einen Augenblick, dann nickte er. »Gut. Ich mache hier früher zu. Können Sie mich in einer Viertelstunde bei der Fina-Tankstelle oben an der
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