Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
Straße nach Albi treffen?«
    »Bei der Tankstelle? Warum? Wie kommen Sie dahin?«
    »Ich fahre dahin. Ich treffe Sie dort, und dann können wir zusammen weiterfahren.«
    »Warum können Sie nicht jetzt gleich mitkommen? Ich warte draußen auf Sie.«
    Jean-Paul seufzte. »Sagen Sie, Ella Tournier, Sie haben nie in einer kleinen Stadt gelebt, bevor Sie nach Lisle gekommen sind, oder?«
    »Nein. Aber –«
    »Ich erzähle es Ihnen, wenn wir fahren.«
    Jean-Paul fuhr in einem zerbeulten weißen Citroën Deux Chevaux, einem dieser klapprigen Autos, deren Dach man wie eine Sardinenbüchse zurückrollen kann, in die Tankstelle. Sein Motor machte ein unverwechselbares Geräusch, ein freundliches, rumpelndes Geheul, über das ich immer lächeln mußte, wenn ich es hörte. Ich hatte eigentlich vermutet, daß Jean-Paul einen Sportwagen fahren würde, aber ein 2 CV paßte zu ihm.
    Er sah so verstohlen aus, als er von seinem Auto in meins umstieg, daß ich lachte. »Also, Sie denken, daß die Leute über unsklatschen werden?« bemerkte ich, als ich auf die Straße nach Albi fuhr.
    »Es ist eine kleine Stadt. Viele alte Frauen hier haben nichts anderes zu tun, als zu beobachten und darüber zu reden, was sie sehen.«
    »Sicher haben sie nichts Böses im Sinn.«
    »Ella, ich werde Ihnen den Tag einer dieser Frauen beschreiben. Sie steht morgens auf und frühstückt auf der Veranda, so daß sie jeden sehen kann, der vorbeikommt. Dann macht sie ihre Einkäufe; sie geht jeden Tag zu allen Läden und redet mit den anderen Frauen und sieht zu, was die anderen Leute machen. Sie kommt zurück und steht ein bißchen vor ihrer Tür herum und redet mit ihren Nachbarn und beobachtet. Sie schläft eine Stunde am Nachmittag, wenn sie weiß, daß alle anderen auch schlafen und sie nichts verpaßt. Sie sitzt für den Rest des Nachmittags auf ihrer Veranda und liest die Zeitung; in Wirklichkeit sieht sie aber genau, was in der Straße vor sich geht. Abends geht sie noch mal spazieren und redet mit all ihren Bekannten. Das ist alles, was sie macht.«
    »Aber ich habe nichts in der Öffentlichkeit getan, worüber sie sprechen könnten.«
    »Sie nehmen alles und verdrehen es.«
    Ich nahm zügig eine Kurve. »Es gibt nichts, was ich in dieser Stadt getan habe, was irgend jemand interessant oder skandalös oder sonst was finden könnte.«
    Jean-Paul schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Sie mögen Zwiebel-Quiches, ja?«
    Ich war eine Sekunde lang pikiert, dann lachte ich. »Ja, das ist so eine Sucht, stimmt. Ich kann mir vorstellen, daß die alten Tratschtanten schockiert sind.«
    »Sie dachten, Sie wären . . . Sie wären –« Er hielt inne. Ich streifte ihn mit einem Blick; er sah verlegen aus. »Schwanger«, brachte er schließlich heraus.
    »Was?« Ich fing an, zu kichern. »Aber das ist doch lächerlich!Warum sollten sie so etwas denken? Und warum ist es ihnen wichtig?«
    »In einem kleinen Ort kennt jeder die Angelegenheiten von jedem. Sie denken, es ist ihr Recht, zu wissen, wenn Sie ein Baby bekommen. Aber sie wissen sowieso, daß Sie nicht schwanger sind.«
    »Gut«, murmelte ich. Dann starrte ich ihn an. »Woher wissen sie das?«
    Zu meiner Überraschung sah Jean-Paul noch verlegener aus. »Nichts, sie –« Er brach ab und nestelte an seiner Hemdtasche herum.
    »Was?« Langsam wurde mir schlecht bei dem Gedanken, was sie alles wissen könnten. Jean-Paul zog ein Päckchen Zigaretten heraus. »Kennen Sie den Durex-Automaten, gleich neben dem Marktplatz?« fragte er schließlich.
    »Ah.« Jemand mußte Rick an jenem Abend gesehen haben. Lieber Gott, dachte ich, was haben sie nicht ausgeschnüffelt? Posaunt der Arzt jeden Besuch aus? Durchwühlen sie unseren Abfall?
    »Was haben sie noch gesagt?«
    »Das brauchen Sie nicht zu wissen.«
    »Was haben sie noch gesagt?«
    Jean-Paul sah zum Fenster hinaus. »Ihnen entgeht nichts, was Sie in den Läden kaufen. Der Briefträger erzählt ihnen von jedem Brief, den Sie bekommen. Sie wissen, wann Sie tagsüber weggehen, und sie merken, wie oft Sie mit Ihrem Mann weggehen. Und, na ja, wenn Sie Ihre Fensterläden nicht schließen, dann sehen sie auch hinein.« Es klang, als würde er in erster Linie mich dafür tadeln, daß ich meine Läden nicht schloß.
    Ich schauderte, dachte an das erstickende Baby, an all die gegen mich gewandten Schultern.
    »Was haben sie genau gesagt?«
    »Sie wollen das wirklich wissen?«
    »Ja.«
    »Da waren die Quiches und der Heißhunger. Dann denken sie, daß Sie

Weitere Kostenlose Bücher