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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Bibel bei weitem nicht so eingehend und liebevoll musterte, wie Jean-Paul das getan hatte. Bei dem Gedanken zog sich mir vor Schuldgefühlen der Magen zusammen: Solche Vergleiche waren absolut ungerecht. Nichts dergleichen mehr, dachte ich entschlossen. Nichts mehr mit Jean-Paul. Schluß, aus.
    »Weißt du, die ist ’ne Stange Geld wert«, sagte Rick. »Bist du sicher, daß er sie dir geschenkt hat? Hast du dir das schriftlich geben lassen?«
    Ich starrte ihn ungläubig an. »Nein, habe ich nicht! Fragst du mich jedesmal nach einer schriftlichen Bestätigung, wenn ich dir was schenke?«
    »Na komm, Ella, ich will dir ja nur helfen. Du willst dochnicht, daß er sich’s anders überlegt und sie plötzlich zurückhaben will. Wenn du’s schriftlich hast, gibt’s keine Probleme. Außerdem sollten wir sie in ein Bankschließfach geben. Am besten in Toulouse, ich glaube nicht, daß die Bank hier welche hat.«
    »Ich werde sie nicht in ein Schließfach tun! Ich behalte sie hier, bei mir!« Ich funkelte ihn an. Dann passierte es: Wie einer von diesen Einzellern unter dem Mikroskop sich aus keinem ersichtlichen Grund plötzlich teilt, fühlte ich, wie wir zu getrennten Wesen mit unterschiedlichen Sichtweisen wurden. Es war seltsam: Ich hatte nicht gewußt, wie sehr wir eins gewesen waren, bis wir auseinander waren.
    Rick schien die Veränderung nicht bemerkt zu haben. Ich starrte ihn an, bis er die Stirn runzelte. »Was ist los?« fragte er.
    »Ich – also, ich werde sie in kein Schließfach tun, soviel ist sicher. Dafür ist sie zu wertvoll.« Ich nahm die Bibel und preßte sie an mich.
    Zu meiner Erleichterung mußte Rick am nächsten Tag seine Reise nach Deutschland antreten. Ich war so verstört durch den neuen Abstand zwischen uns, daß ich unbedingt Zeit für mich brauchte. Er küßte mich zum Abschied, nichts ahnend von meinem inneren Aufruhr, und ich fragte mich, ob ich so wenig von seinem Innenleben wußte wie er von meinem.
    Es war Mittwoch, und ich wäre zu gern zum Café am Fluß gegangen, um Jean-Paul zu treffen. Doch die Vernunft siegte über das Gefühl: Ich wußte, daß es besser war, alles eine Zeitlang ruhen zu lassen. Ich wartete, bis er mit ziemlicher Sicherheit im Café in seine Zeitung vertieft war, bevor ich für meine täglichen Erledigungen aus dem Haus ging. Eine zufällige Begegnung auf der Straße unter den Augen so vieler Leute, die von jeder unserer Bewegungen fasziniert waren, war überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Ich hatte nicht die Absicht, dieses Drama vor dem ganzen Dorf aufzuführen. Als ich mich dem Marktplatznäherte, ging mir Jean-Pauls Beschreibung von Lisle und was man hier von mir dachte, wieder durch den Kopf; am liebsten wäre ich in die Abgeschiedenheit meines Hauses zurückgelaufen und hätte sogar die Fensterläden geschlossen.
    Ich zwang mich, weiterzugehen. Als ich die ›Herald Tribune‹ und ›Le Monde‹ kaufte, war die Verkäuferin sehr freundlich, sah mich nicht merkwürdig an und machte sogar eine Bemerkung über das Wetter. Sie schien nicht an meine Waschmaschine, Fensterläden oder ärmellosen Kleider zu denken.
    Die echte Prüfung war Madame. Resolut ging ich auf die boulangerie zu. »Bonjour, Madame« , sang ich, als ich eintrat. Sie war gerade mitten in einem Gespräch mit jemand anderem und runzelte die Stirn, als ich sie ansprach. Ich warf einen Blick auf ihre Kundschaft: es war Jean-Paul. Er verbarg seine Überraschung, aber nicht schnell genug für Madame, die uns mit triumphierendem Ekel und Frohlocken beäugte.
    Ach, zum Teufel, dachte ich, jetzt reicht’s. »Bonjour, Monsieur« , sagte ich fröhlich.
    »Bonjour, Madame«, erwiderte er. Obwohl sein Gesicht unbewegt blieb, klang seine Stimme, als würde er die Augenbrauen hochziehen.
    Ich wandte mich an Madame. »Madame, ich hätte gern zwanzig von Ihren Quiches, bitte. Wissen Sie, ich finde sie wunderbar. Ich esse sie jeden Tag, zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendessen.«
    » Zwanzig Quiches«, wiederholte sie und sperrte den Mund auf.
    »Ja, bitte.«
    Madame klappte den Mund zu, preßte die Lippen fest zusammen und griff, die Augen noch auf mich gerichtet, hinter sich nach einer Papiertüte. Ich hörte, wie Jean-Paul sich leise räusperte. Als Madame sich bückte, um die Quiches in die Tüte zu legen, sah ich zu ihm hin. Er hatte den Blick auf eine Auslage mit gezuckerten Mandeln geheftet. Sein Mund war angespannt, under rieb sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn. Ich sah wieder zu

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