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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Madame hin und lächelte. Sie richtete sich auf und faltete die Papiertüte zu. »Ich habe nur fünfzehn«, murmelte sie, während sie mich anfunkelte.
    »Oh, wie schade. Dann werde ich zur pâtisserie gehen müssen, um zu sehen, ob sie dort welche haben.« Ich vermutete, daß Madame die pâtisserie verachtete; was es dort gab, mußte ihr, einer ernsthaften Brotverkäuferin, frivol erscheinen. Ich hatte recht: Ihre Augen weiteten sich, sie schüttelte den Kopf und schnaubte. »Die haben keine Quiches!« rief sie. »Ich bin die einzige, die in Lisle-sur-Tarn Quiches macht!«
    »Ah«, erwiderte ich. »Na ja, dann vielleicht im Intermarché.«
    Jean-Paul stieß einen unterdrückten Laut aus, und Madame hätte beinahe die Tüte mit den Quiches fallengelassen. Dies war die Todsünde: ihren Erzrivalen und die schlimmste Bedrohung ihres Geschäftes zu nennen, den Supermarkt am Stadtrand, ohne Geschichte, ohne Würde und ohne Finesse. Ungefähr so wie ich. Ich lächelte. »Was schulde ich Ihnen?« fragte ich.
    Madame antwortete einen Augenblick lang nicht; sie sah aus, als müsse sie sich setzen. Jean-Paul nutzte diese Gelegenheit, murmelte »Au revoir, Mesdames« und verschwand.
    Als er weg war, hatte ich das Interesse am Streit mit ihr verloren. Ich gab ihr widerstandslos die 150 Francs, die sie verlangte. Sie nahm mir den letzten Centime ab, aber es hatte sich gelohnt.
    Draußen holte Jean-Paul mich ein.
    »Du bist sehr boshaft, Ella Tournier«, murmelte er auf französisch.
    »Möchtest du vielleicht eine Quiche?« Wir lachten.
    »Ich dachte, wir dürfen uns in der Öffentlichkeit nicht sehen. Dies –« Ich zeigte um mich herum auf den Platz – »ist sehr öffentlich.«
    »Ah, aber ich habe einen beruflichen Grund, mit dir zu sprechen. Sag mal, hast du die Bibel genau angesehen?«
    »Noch nicht. Hörst du nie auf? Brauchst du keinen Schlaf?«
    Er lächelte. »Ich habe nie viel Schlaf gebraucht. Bring die Bibel morgen zur Bibliothek. Ich habe ein paar interessante Details über deine Familie herausgefunden.«
    Die Bibel hatte eine eigenartige Größe, lang und ungewöhnlich schmal. Aber sie war nicht zu schwer und lag bequem in meinen Armen. Der vordere Einband war aus abgegriffenem, eingerissenem Leder, das matt und weich und fleckig in verschiedenen kastanienbraunen Tönen glänzte. Ein Insekt hatte an mehreren Stellen winzige Löcher in das rissige Leder gebohrt. Der rückseitige Einband war geschwärzt und halb verbrannt, aber auf der Vorderseite konnte man noch ein kompliziertes Muster aus goldenen Linien und Blättern erkennen. Goldene Blumen waren auf den Rücken geprägt, und eine leicht abgewandelte Form des Musters war mit Hammer und Nadel in den Schnitt eingestanzt worden.
    Ich schlug den Anfang von Genesis auf: »Diev crea av commencement le ciel & la terre«. Der Text war in zwei Spalten angelegt, die Schrifttype klar, und obwohl die Rechtschreibung eigenwillig war, verstand ich das Französisch – jedenfalls das, was davon übrig war. Der hintere Teil des Buches war weggebrannt und die mittleren Seiten so verrußt, daß nichts mehr zu erkennen war.
    In Crazy Joe’s Bar hatten Mathilde und Monsieur Jourdain eine lange Auseinandersetzung darüber gehabt, woher die Bibel ursprünglich stammte, und Jean-Paul hatte hier und da etwas eingeworfen. Ich konnte ihrer Unterhaltung nur streckenweise folgen, denn Monsieur Jourdains Dialekt war schwer zu entschlüsseln, und Mathilde sprach so schnell. Es war immer schwerer, einer Unterhaltung auf französisch zu folgen, wenn ich nicht direkt angesprochen wurde. Soweit ich verstand, waren sie sich darüber einig, daß die Bibel wahrscheinlich in Genf gedruckt und möglicherweise von jemandem namens Lefèvre d’Etaples übersetzt worden war. Monsieur Jourdain hatte besonders auf diesen Namen bestanden.
    »Wer war das?« fragte ich zögernd.
    Monsieur Jourdain fing an zu kichern. »La Rousse will wissen, wer Lefèvre war«, wiederholte er unentwegt und schüttelte den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt hatte er drei Highballs hinter sich. Ich nickte geduldig und ließ ihm seinen Spaß; die Martinis hatten mich toleranter gemacht, selbst wenn ich ausgelacht wurde.
    Schließlich erklärte er, daß Lefèvre d’Etaples der erste gewesen war, der die Bibel aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt hatte, so daß sie nicht mehr nur den Pfarrern zugänglich war. »Das war der Anfang«, erklärte er. »Das war der Anfang von allem. Die Welt brach auseinander!« Mit diesem

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