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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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aufhören kann, sie anzusehen und sie immer mit mir streitet und mich wütend macht und mich gleichzeitig unheimlich anzieht.« Er lehnte sich herein und küßte mich hart auf beide Wangen. Gerade fing er an, sich wieder aufzurichten, als meine Hand, meine dreiste, tückische Hand, hochschnellte, sich um seinen Hals hakte und sein Gesicht zu meinem herabzog.
    Es war Jahre her, seit ich jemand anderen als Rick geküßt hatte. Ich hatte vergessen, wie unterschiedlich Leute sein können. Jean-Pauls Lippen waren weich, aber fest und verrieten nur eine Ahnung davon, was hinter ihnen lag. Sein Geruch war betörend; ich riß mich von seinem Mund los, rieb meine Wange an dem Schmirgelpapier seines Kinns, vergrub die Nase in seinem Hals und atmete tief ein. Er kniete nieder und zog meinen Kopf zurück, fuhr mit den Fingern wie mit einem Kamm durch mein Haar. Er lächelte mir zu. »Du siehst viel französischer aus mit diesem roten Haar, Ella Tournier.«
    »Ich hab es aber wirklich nicht gefärbt.«
    »Das habe ich auch nie behauptet.«
    »Es war Ri–« Wir erstarrten beide; Jean-Paul hörte auf, durch meine Haare zu kämmen.
    »Tut mir leid«, sagte ich, »Ich wollte nicht –« Ich seufzte und fuhr fort: »Weißt du, ich habe nie gedacht, daß ich mit Rick unglücklich bin, aber jetzt fühlt es sich an, als ob etwas nicht – als ob wir ein Puzzle wären, wo jedes Teil genau an seinem richtigen Platz ist, aber das Puzzle stellt ein falsches Bild dar.« Meine Kehle schnürte sich zusammen, und ich sprach nicht weiter.
    Jean-Paul ließ die Hände von meinem Haar fallen. »Ella, wir haben uns geküßt. Das heißt noch lange nicht, daß deine Ehe zerbricht.«
    »Nein, aber –« Ich hielt inne. Wenn ich über Rick und mich Zweifel hatte, dann sollte ich sie mit Rick besprechen.
    »Ich möchte dich weiterhin sehen«, sagte ich. »Darf ich dich noch sehen?«
    »In der Bibliothek, ja. Nicht an der Fina-Tankstelle.« Er hob meine Hand und küßte die Innenfläche. »Au revoir, Ella Tournier. Bonne nuit.«
    »Bonne nuit.«
    Er stand auf. Ich schlug die Tür zu und sah ihm zu, wie er zu seinem Auto hinüberging und einstieg. Er ließ es an, hupte kurz und fuhr weg. Ich war erleichtert, daß er nicht darauf bestanden hatte, zu warten, bis ich zuerst wegfuhr. Ich sah ihm nach, bis seine Rücklichter am Ende der langen, von Bäumen gesäumten Straße außer Sichtweite waren. Dann stieß ich einen langen Atemzug aus, griff hinter mich nach der Tournierschen Bibel, hielt sie im Schoß und starrte auf die Straße hinaus.
    Ich war schockiert, wie einfach es war, Rick anzulügen. Ich hatte immer gedacht, daß er es sofort merken würde, wenn ich ihn betrog, daß ich meine Schuldgefühle nie würde verbergen können, daß er mich zu gut kannte. Aber meistens sieht man das, was man erwartet; Rick erwartete, daß ich mich auf eine bestimmte Art verhielt, also sah er mich auch so. Als ich mit der Bibel unter dem Arm hereinkam, nachdem ich erst eine halbe Stunde zuvor mit Jean-Paul zusammengewesen war, sah Rick von seiner Zeitung auf und sagte fröhlich, »Hallo, Schatz«, und es war, als wäre nichts passiert. So fühlte es sich an, zu Hause bei Rick, der sauber und golden unter seiner Leselampe saß, weit weg von dem dunklen Wagen, dem Rauch, Jean-Pauls Jacke. Sein Gesichtsausdruck war offen und arglos; er verbarg nichts vor mir. Ja, beinahe schien es, als wäre nie etwas passiert.Das Leben konnte überraschend einfach in verschiedene Bereiche unterteilt werden.
    Das Ganze wäre so viel leichter, wenn Rick ein fieser Kerl wäre, dachte ich. Aber natürlich hätte ich einen fiesen Kerl nie geheiratet. Ich küßte ihn auf die Stirn. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte ich.
    Er warf seine Zeitung hin und setzte sich auf. Ich kniete neben ihm nieder, zog die Bibel aus der Tüte und ließ sie auf seinen Schoß plumpsen.
    »Hey, das ist allerdings was«, sagte er und strich mit der Hand über den Einband. »Woher hast du die? Du warst am Telefon nicht besonders deutlich, wo du hinwolltest.«
    »Der alte Mann, der mir in Le Pont de Montvert geholfen hat, Monsieur Jourdain, hat sie im Archiv gefunden. Er hat sie mir geschenkt.«
    »Sie gehört dir? «
    »Ja. Sieh dir die erste Seite an. Siehst du? Meine Verwandten. Das sind sie.«
    Rick sah die Reihe von Namen an, nickte und lächelte. »Du hast es tatsächlich geschafft. Du hast sie gefunden!«
    »Ja. Mit viel Hilfe und viel Glück. Aber immerhin.« Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß er die

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