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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Was soll das alles?« Er ahmte meine Gesten beim Abzählen nach.
    »Die Geburt ist etwa 266 Tage nach der Empfängnis. Mehr oder weniger. Natürlich variiert die Zeit der Schwangerschaft von Frau zu Frau etwas, und es war wahrscheinlich ein wenig anders damals. Andere Ernährung, anderer Körperbau. Aber es war jedenfalls im April. Gute sieben Wochen, bevor sie geheiratet haben.«
    »Und woher weißt du das mit den 266 Tagen, Ella Tournier? Du hast doch keine Kinder, oder? Hast du sie irgendwo versteckt?«
    »Ich bin Hebamme. Ich weiß über solche Sachen Bescheid.«
    Er sah verwirrt aus, also sagte ich es auf französisch. »Une sage-femme. Je suis une sage-femme.«
    »Toi? Une sage-femme?«
    »Ja. Du hast mich nicht einmal nach meinem Beruf gefragt.«
    Er sah ganz geknickt aus, höchst ungewöhnlich für ihn, und ich spürte einen leisen Triumph; endlich hatte ich einmal die Oberhand gewonnen.
    »Du überraschst mich immer wieder, Ella«, sagte er und schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Komm, komm, hör auf zu flirten oder deine Kollegin wird es der ganzen Stadt erzählen.«
    Beide sahen wir instinktiv zur Tür und setzten uns aufrecht hin. Ich rückte ein wenig von ihm ab.
    »Also war es eine ›Schrotflinten‹-Hochzeit, wie wir es nennen«, erklärte ich, um uns wieder zum Thema zurückzubringen.
    »Eine Flinten-Hochzeit?«
    »Ihre Eltern haben ihn gezwungen, sie zu heiraten, als sie herausgefunden haben, daß sie schwanger war. In den Staaten gibtes dieses Klischee vom Vater, der den Mann mit einer Schrotflinte bedroht, um ihn vor den Altar zu kriegen. Deshalb ›Schrotflinten-Hochzeit‹.«
    Jean-Paul dachte einen Moment lang nach. »Das ist vielleicht so passiert.« Es klang nicht überzeugt.
    »Aber?«
    »Aber diese – Gewehr-Heirat, wie du sagst – erklärt nicht, warum sie so dicht an seinem Geburtstag geheiratet haben.«
    »Dann war es eben Zufall, daß sie am Tag vor seinem Geburtstag geheiratet haben. Na und?«
    »Du und deine Zufälle, Ella Tournier. Du suchst dir aus, an welche du glauben willst. Das ist also ein Zufall, und Nicolas Tournier ist keiner.«
    Ich erstarrte. Wir hatten nicht mehr von dem Maler gesprochen, seit wir uns so heftig über ihn gestritten hatten.
    »Das Gleiche könnte ich über dich sagen!« schoß ich zurück. »Wir wählen nur unterschiedliche Zufälle aus, für die wir uns interessieren, das ist alles.«
    »Ich habe mich für Nicolas Tournier interessiert, bis ich herausgefunden habe, daß er nicht dein Vorfahr war. Ich habe ihm eine Chance gegeben. Und ich gebe diesem Zufall auch eine Chance.«
    »Okay, also warum ist das dann mehr als ein Zufall?«
    »Wegen des Datums und des Tages der Hochzeit. Beide sind schlecht.«
    »Was meinst du mit schlecht?«
    »In der Kultur des Languedoc gab es einen Glauben, nach dem man niemals im Mai oder im November heiraten sollte.«
    »Warum nicht?«
    »Mai ist der Monat des Regens, der Tränen, und November der Monat der Toten.«
    »Aber das ist doch nur Aberglaube. Ich dachte, die Hugenotten hatten dem Aberglauben abgeschworen. Das war doch angeblich eine katholische Unsitte.«
    Das brachte ihn momentan zum Schweigen. Er war nicht der einzige, der Bücher gelesen hatte.
    »Trotzdem stimmt es, daß es in diesen Monaten weniger Hochzeiten gegeben hat. Und außerdem war der 28 . Mai 1563 ein Montag, und die meisten Hochzeiten waren an Dienstagen oder Samstagen. Das waren die bevorzugten Tage.«
    »Warte. Woher um Himmels willen weißt du, daß es ein Montag war?«
    »Ich habe einen Freund in der Nähe mit einem Computer, der an die Universität angeschlossen ist. Gesten war ich bei ihm, und wir haben einen Kalender gefunden.«
    Der ultimative Streber. Ich seufzte. »Also hast du offensichtlich bereits eine Theorie darüber, was geschehen ist. Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee komme, daß ich in dieser ganzen Sache irgend etwas zu sagen hätte.«
    Er sah mich an. » Pardon. Ich habe deine Forschung gestohlen, ja?«
    »Ja. Sieh mal, ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen, aber ich habe das Gefühl, daß bei dir alles im Kopf passiert, nicht mit dem Herzen. Kannst du das verstehen?«
    Er schob die Lippen vor und nickte.
    »Trotzdem würde ich deine Theorie gerne hören. Aber es ist nur eine Theorie, ja? Ich kann meine Idee, daß es eine Schrotflinten-Hochzeit war, behalten?«
    »Ja. Also, vielleicht waren seine Eltern gegen die Heirat, bis sie von dem Kind erfuhren. Dann haben sie sich mit der Hochzeit beeilt, damit die Nachbarn

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