Das dunkelste Blau
Teil erreichte, wo ich morgens oft entlangging, atmete ich etwas leichter, aber ich fühlte mich immer noch exponiert. Ich war mir sicher, daß alle mich anstarrten, mein zerknittertes Kleid und die Ringe unter meinen Augen bemerkten. Komm schon, Ella, sie starren dich immer an, versuchte ich mich zu beruhigen. Und zwar, weil du nach wie vor eine Fremde bist, nicht weil du gerade – Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.
Erst als ich unsere Straße erreicht hatte, merkte ich auf einmal, daß ich gar nicht nach Hause wollte: Ich sah unser Haus, und eine Welle der Übelkeit stieg in mir hoch. Ich blieb stehen und lehnte mich an das Nachbarhaus. Wenn ich hineingehe,dachte ich, muß ich mich mit meiner Schuld auseinandersetzen.
Lange blieb ich dort stehen. Dann drehte ich mich um und ging zum Bahnhof. Wenigstens konnte ich zuerst das Auto holen; das gab mir eine konkrete Ausrede, den Rest meines Lebens erst mal zu verschieben.
Ich saß träumend im Zug, hatte halb süße, halb unangenehme Träume, und vergaß beinahe, an der nächsten Station in den Zug nach Lavaur umzusteigen. Um mich herum saßen Geschäftsleute, Frauen mit ihren Einkäufen und flirtende Teenager. Es schien so komisch, daß mir etwas so Außerordentliches passiert war und niemand um mich herum davon wußte. »Können Sie sich vorstellen, was ich gerade getan habe?« wollte ich zu der grimmig dreinblickenden Frau sagen, die gegenüber von mir strickte. »Hätten Sie das auch getan?«
Aber die Ereignisse meines Lebens machten keinen Unterschied für die Leute im Zug oder für den Rest der Welt. Brot wurde immer noch gebacken, Benzin gepumpt, Quiches gemacht, und die Züge waren pünktlich. Sogar Jean-Paul war in der Arbeit und beriet alte Damen bei der Bücherauswahl. Und Rick saß in seinen deutschen Meetings und wußte von nichts. Ich holte heftig Luft: Ich war die einzige, die sich außerhalb der Ordnung befand, die nichts anderes zu tun hatte als ein Auto abzuholen und sich schuldig zu fühlen.
In einem Café in Lavaur trank ich einen Espresso, bevor ich zu meinem Wagen ging. Als ich die Autotür aufschloß, hörte ich jemanden sagen, »Eh, l’américaine!« , und als ich mich umwandte, sah ich den Mann mit der Glatze, mit dem ich am vorigen Abend gestritten hatte, auf mich zukommen. Inzwischen hatte er einen Viertagebart. Ich machte die Tür weit auf und lehnte mich dagegen; die Tür stand wie ein Schild zwischen ihm und mir. »Salut« , sagte ich.
»Salut, Madame.« Die Betonung von »Madame« entging mir nicht.
»Je m’appelle Ella«, sagte ich kalt.
»Claude.« Er streckte mir die Hand hin, und wir tauschten einen formellen Händedruck aus. Ich fühlte mich etwas lächerlich. Alle Hinweise darauf, was ich gerade getan hatte, waren vor seiner Nase ausgestellt wie in einem Schaufenster: Das Auto war noch hier, mein zerknittertes Kleid vom Vorabend, mein müdes Gesicht, sogar mein aufgelöstes Haar, all das würde ihn zu einem einzigen Schluß bringen. Die Frage war, ob er den Takt haben würde, nichts zu sagen. Irgendwie bezweifelte ich das.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Nein, danke, ich habe eben einen getrunken.«
Er lächelte. »Komm, trink einen Kaffee mit mir.« Er machte eine winkende Geste und ging los, in der Erwartung, daß ich ihm folgen würde. Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Er sah zurück, blieb stehen und lachte. »Oh, du, du bist wirklich schwierig! Wie eine Katze mit kleinen Krallen, so –« er mimte Krallen mit steifen, gebogenen Fingern – »und gesträubtem Fell. Also gut, du willst keinen Kaffee. Komm, setzen wir uns hier kurz auf die Bank, ja? Ich möchte dir etwas sagen.«
»Was?«
»Ich möchte dir helfen. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich möchte Jean-Paul helfen. Also, setz dich. Nur eine Sekunde.« Er setzte sich auf die Bank und sah mich erwartungsvoll an. Schließlich warf ich die Autotür zu, ging hin und setzte mich neben ihn. Ich sah ihn nicht an, sondern hielt meinen Blick auf den Garten vor uns gerichtet, wo ein kunstvolles Blumenarrangement gerade zu blühen anfing.
»Was wollen Sie mir sagen?« Ich achtete darauf, die formelle Anrede zu benutzen, um seinem vertraulichen Ton etwas entgegenzusetzen. Ohne Wirkung.
»Weißt du, Jean-Paul ist ein guter Freund von Janine und mir. Von uns allen in La Taverne.« Er zog ein Päckchen Zigaretten heraus und bot es mir an. Ich schüttelte den Kopf; er zündete eine an und lehnte sich zurück.
»Du weißt, daß er ein Jahr lang mit einer Frau
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