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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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auf. Jacob stellte sich neben Isabelle.
    – Die Steine auf dem Boden, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Das war der Schnitt für das Kleid.
    – Ja, sagte er leise. Es war, um sie zu beschützen. Wie der Händler gesagt hat. Vor dem Ertrinken.
    – Warum hat dein Vater die Steine auch gezählt? Wozu will er wissen, wie groß Marie ist?
    Jacob sah sie aus großen Augen an.
    – Ich weiß nicht.

8. Der Hof
    Ich flog von Toulouse nach Genf und nahm dann den Zug nach Moutier. Alles ging schnell und einfach: Es gab einen Flug, es gab einen Zug, und Jacob klang mehr erfreut als überrascht, daß ich mit so kurzer Vorankündigung zu Besuch kommen wollte. Mit äußerst kurzer Vorankündigung: Ich rief ihn mittags an; um sechs kam der Zug in Moutier an.
    Auf dem Weg von Genf fing ich wieder an, nachzudenken. Während des Fluges von Toulouse war ich ganz benommen gewesen, aber jetzt rüttelte der Rhythmus des Zuges mich wieder wach. Ich sah mich um.
    Mir gegenüber saß ein stämmiges Paar mittleren Alters. Er trug einen schokoladenfarbenen Blazer und eine gestreifte Krawatte, las außerdem eine sorgfältig gefaltete Zeitung; sie war in ein graues Wollkleid und eine Jacke in einem dunkleren Grau gekleidet, hatte goldene Bögen an die Ohren geklemmt und trug italienische Schuhe. Sie war offensichtlich gerade beim Friseur gewesen, das Haar war aufgebauscht und in einem Rotbraun gefärbt, das meinem ganz ähnlich war, nur daß es synthetisch aussah. Sie hielt eine schmale lederne Handtasche auf ihrem Schoß und schrieb etwas, was nach einer Liste aussah, in ein winziges Notizbuch.
    Wahrscheinlich macht sie schon ihre Liste für die Weihnachtskarten, dachte ich und fühlte mich gar nicht wohl in meinem zerknitterten leinenen Aufzug.
    Die ganze Stunde über, in der ich ihnen gegenübersaß, sprachen sie nicht ein einziges Wort miteinander. Als ich umsteigen mußte und aufstand, sah der Mann kurz auf und nickte. »Bonne journée, Madame« , sagte er mit einer Höflichkeit, die nur Leute über Fünfzig würdevoll hinbekommen. Ich lächelte und nickte ihm und seiner Begleiterin zu. So ging es hier eben zu.
    Die Züge waren leise, sauber und pünktlich. Die Passagiere waren auch leise und sauber, anständig gekleidet, lasen Sinnvolles und waren bedächtig in ihren Bewegungen. Es gab keine knutschenden Paare, keine Männer, die unanständig starrten, keine zu knappen Kleider oder halbbedeckten Busen, keine Betrunkenen, die auf zwei Sitzen lümmelten – alles ein alltäglicher Anblick im Zug von Lisle nach Toulouse. Das hier war kein Land, in dem man herumlümmelte; die Schweizer nahmen nie zwei Plätze in Anspruch, wenn sie nur für einen bezahlt hatten.
    Vielleicht wollte ich auch so eine Ordnung finden, nach all dem Chaos, das hinter mir lag. Es war typisch, daß ich schon landeseigene Charakterzüge beobachtete, obwohl ich kaum eine Stunde lang hier war; ich hatte sofort eine Meinung, an der ich herumbasteln konnte und die ich dann veränderte, um die Leute, die ich traf, miteinzuschließen. Wenn ich wirklich gewollt hätte, hätte ich wohl irgendwo in diesen Zügen Schmutz, zerrissene Kleider und laute Stimmen, billige Romane, einen Fixer in der Toilette, Leidenschaft, Angst finden können. Statt dessen hielt ich mich an der oberflächlich sichtbaren Normalität fest.
    Ich fand die neue Landschaft faszinierend: Die massiven Felsen des Jura, die steil neben den Zuggleisen aufstiegen, die tannenbestandenen Hänge, die präzisen Konturen der Häuser, die säuberliche Anordnung von Feldern und Höfen. Ich war unlogischerweise überrascht, daß es so anders war als Frankreich. Schließlich war es ein anderes Land, woran ich ja auch meinen Vater erinnert hatte. Die eigentliche Überraschung war allerdings, daß ich merkte, die französische Landschaft, die ich hinter mir gelassen hatte – die sanften Hügel, die hellgrünen Weinberge, der rostfarbene Ton der Erde, das silberfarbene Licht –, war mir gar nicht mehr fremd.
    Jacob hatte am Telefon gesagt, daß er mich am Bahnhof abholen würde. Ich wußte gar nichts von ihm, nicht einmal, wie alt er war, obwohl ich annahm, daß er eher im Alter meines Vaters war als in meinem. Als ich in Moutier auf den Bahnsteig trat, sah ich ihn sofort: Er erinnerte mich an meinen Vater, obwohl sein Haar nicht grau war, sondern braun; es hatte die gleiche Farbe wie meins früher. Er war sehr groß und trug einen cremefarbenen Pullover, der ganz aus der Form gezogen war von seinen hängenden Schultern.

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