Das dunkelste Blau
Sein Gesicht war lang und schmal, beinahe hager, mit einem feinen Kinn und hellen braunen Augen. Er sah energisch aus, wie ein Endfünfziger, der noch durch seine Arbeit in Anspruch genommen ist, noch nicht zu denen gehört, die es sich schon mit der Rente bequem gemacht haben, der aber weiß, daß er dieser Gruppe bald angehören wird, und sich schon fragt, wie er mit soviel Freiheit umgehen wird.
Er kam auf mich zu, nahm meinen Kopf zwischen seine großen Hände und küßte mich dreimal auf die Wangen.
»Ella, du siehst genauso aus wie dein Vater«, sagte er in einem deutlichen Französisch.
Ich grinste zu ihm hoch. »Ah, dann muß ich aussehen wie du, denn du siehst genauso aus wie mein Vater!«
Er nahm meine Tasche, legte einen Arm um meine Schultern und führte mich eine Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Er schwenkte meine Tasche in einem weiten Halbkreis, als er mit einer großen Geste um sich zeigte. »Bienvenue à Moutier!« rief er.
Ich machte einen Schritt vorwärts und konnte gerade noch sagen »C’est très –« , bevor ich zu Boden sank.
Ich wachte in einem weißen Zimmer auf, das klein, quadratisch und karg war wie eine Mönchszelle; es enthielt ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Sekretär. Hinter meinem Kopf war ein Fenster; wenn ich meine Augen verdrehte, konnte ich hinaussehen und verkehrt herum einen weißen Kirchturm erkennen,dessen schwarzes Zifferblatt teilweise durch einen Baum verdeckt wurde.
Jacob saß auf dem Stuhl neben meinem Bett; ein fremder Mann mit rundem Gesicht stand in der Tür. Ich lag da und sah sie an, konnte aber nicht sprechen. »Ella, tu t’es évanouiée«, sagte Jacob. Ich hatte dieses Wort noch nie gehört, verstand aber sofort, was er meinte. »Lucien –« er zeigte auf den Mann – »fuhr gerade mit seinem Lastwagen vorbei, und er hat dich hergebracht. Wir haben uns Sorgen gemacht, denn du warst so lange bewußtlos.«
»Wie lange?« Ich versuchte mich aufzusetzen, und Jacob stützte mich.
»Zehn Minuten. Die ganze Fahrt über bis zum Haus.«
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich kann mich an gar nichts erinnern.«
Lucien trat mit einem Glas Wasser ans Bett und reichte es mir.
»Merci«, murmelte ich. Er lächelte statt einer Antwort und bewegte dabei kaum die Lippen.
Ich nippte, dann befühlte ich mein Gesicht; es war naß und klebrig. »Warum ist mein Gesicht naß?«
Jacob und Lucien tauschten einen Blick. »Du hast geweint«, erwiderte Jacob.
»Als ich bewußtlos war?«
Er nickte, und ich merkte plötzlich, daß ich eine wunde, laufende Nase hatte, heiser war und erschöpft.
»Habe ich gesprochen?«
»Du hast irgend etwas zitiert.«
»J’ai mis en toi mon espérance: Garde-moi donc, Seigneur. War es das?«
»Ja«, erwiderte Lucien. »Das war –«
»Du brauchst Schlaf«, unterbrach Jacob. »Ruh dich aus. Wir sprechen später.« Er breitete eine dünne Decke über mich. Lucien hob die Hand zu einem bewegungslosen Winken. Ich nickte, und er verschwand.
Ich schloß die Augen und öffnete sie nochmals, als Jacob gerade die Tür hinter sich zuzog. »Jacob, hat dieses Haus Fensterläden?«
Er steckte seinen Kopf wieder ins Zimmer. »Ja, aber ich mag sie nicht. Ich benutze sie nie.« Er lächelte und schloß die Tür.
Es war dunkel, als ich wieder aufwachte; ich war verschwitzt und orientierungslos. Draußen waren überall Fenster erleuchtet; anscheinend schloß hier niemand die Fensterläden. Der Kirchturm war hell angestrahlt. In diesem Moment fingen die Glokken im Turm an zu läuten, und ich zählte automatisch mit, bis zehn: Ich hatte vier Stunden geschlafen. Es schien mir, als seien es Tage gewesen.
Ich knipste die Nachttischlampe an. Der gelbe Schirm warf ein sanftes, goldenes Licht ins Zimmer. Ich war noch nie in einem Zimmer gewesen, wo es überhaupt keine Dekoration gab; die Schlichtheit war seltsam tröstlich. Ich lag eine Weile da, betrachtete den Lichtschein und war mir nicht sicher, ob ich überhaupt aufstehen wollte. Schließlich tat ich es aber doch, verließ das Zimmer und tastete mich auf der dunklen Treppe nach unten. Am Fuß der Treppe stand ich in einem dunklen Korridor, von dem drei verschlossene Türen wegführten. Ich öffnete die, unter der ein Lichtstreifen durchschimmerte, und trat in eine helle Küche, die gelb gestrichen war und einen blankpolierten Holzboden sowie eine Reihe Fenster an der einen Wand hatte. Jacob saß an einem runden hölzernen Tisch und las eine Zeitung, die er gegen eine Schale
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