Das dunkelste Blau
Dann geschah etwas, was ich seit Monaten nicht mehr erlebt hatte: Mein Gehirn schaltete auf Automatik, zu einem bekannten Programm, wo ich genau wußte, wo ich war und was ich zu tun hatte.
Ich legte beide Arme um sie und sagte sanft: »Susanne, du mußt dich hinlegen.« Sie nickte, ging in die Knie und lehnte sich nach vorne in meine Arme. Ich legte sie vorsichtig auf den Boden und sah dann zu Jan hinauf, der noch immer wie festgefroren an derselben Stelle stand. »Jan, gib mir deine Jacke«, befahl ich. Er starrte mich nur an, bis ich es laut wiederholte, dann erst gab er mir seine beige Baumwolljacke (genau so etwas trugen meiner Vorstellung nach alte Männer beim Skat). Ich stopfte sie unter Susannes Kopf, zog dann Jean-Pauls Hemd aus und deckte sie damit zu, so daß ihr blutbefleckter Unterleib bedeckt war. Ein roter Fleck erschien langsam auf dem Rücken des Hemdes; einen Augenblick lang war ich wie hypnotisiert durch die beiden Farben, die durch den Kontrast noch schöner wurden.
Ich schüttelte den Kopf, drückte Susannes Hand und beugte mich über sie. »Keine Angst, du bist in Ordnung. Alles wird gut.«
»Ella, was ist los?« Jacob sah zu uns hinab, und sein langes Gesicht war vor Sorge verzerrt. Ich blickte zu Jan hinüber, der immer noch wie gelähmt war, und traf eine schnelle Entscheidung. »Susanne hatte eine –«
Was für ein Augenblick, in dem mein Französisch mich hier im Stich ließ; Madame Sentier hatte mich nie auf Worte wie Fehlgeburt vorbereitet. »Susanne, du mußt es ihnen sagen. Ich weiß das französische Wort nicht. Kannst du das?«
Sie sah mich an, und ihre Augen schwammen in Tränen.
»Du mußt es nur sagen. Das ist alles. Alles andere mache ich.«
»Une fausse couche« , murmelte sie. Die zwei Männer starrten sie entsetzt an.
»Also«, sagte ich ruhig. »Jan, siehst du das Haus da unten?« Ich zeigte zum nächstgelegenen Bauernhof, der eine Viertelmeile den Berg hinunter lag. Jan antwortete nicht, bis ich seinen Namen nochmals nannte, diesmal schärfer. Dann nickte er.
»Gut. Also, lauf hin und ruf das Krankenhaus an. Kannst du das tun?«
Endlich riß er sich zusammen. »Ja, Ella, ich laufe zu dem Haus da und rufe das Krankenhaus an«, sagte er.
»Gut. Und frag die Leute, ob sie uns mit ihrem Auto aushelfen können, falls sie keinen Krankenwagen schicken können. Also, los!« Das letzte Wort wirkte wie ein Peitschenhieb. Jan bückte sich, berührte den Boden mit einer Hand und startete, als wäre er in einem Kinderwettrennen. Ich zog eine Grimasse. Susanne muß diesen Typ unbedingt loswerden, dachte ich.
Jacob hatte sich neben Susanne niedergekniet und legte seine Hand auf ihr Haar. »Wird sie es überstehen?« fragte er und versuchte seine Verzweiflung zu verbergen.
Ich richtete meine Antwort an Susanne. »Natürlich wirst du es überstehen. Es tut jetzt wahrscheinlich ein bißchen weh, oder?«
Susanne nickte.
»Das hört gleich auf. Jan ist losgegangen und ruft einen Krankenwagen, der dich bald abholt.«
»Ella, das ist meine Schuld«, flüsterte sie.
»Nein. Es ist nicht deine Schuld. Sehr viele Frauen haben Fehlgeburten. Du hast nichts Falsches gemacht. Du hattest gar keinen Einfluß darauf.«
Sie sah nicht besonders überzeugt aus. Jacob starrte uns beide an, als sprächen wir chinesisch.
»Ich schwöre . Es ist nicht deine Schuld. Glaub mir bitte. Okay?«
Schließlich nickte sie.
»Jetzt muß ich dich untersuchen. Darf ich?«
Susanne umklammerte meine Hand fester, Tränen rollten ihr übers Gesicht. »Ja, ich weiß, es tut weh, und du willst nicht, daß ich mir das ansehe, aber ich will sicher sein, daß alles in Ordnung ist. Ich werde dir nicht weh tun. Du weißt, daß ich dir nicht weh tue.«
Ihre Augen schossen zu Jacob hin und dann zu mir zurück; ich verstand. »Jacob, halte bitte Susannes Hand«, befahl ich und legte ihre schmale Hand in seine. »Hilf ihr, sich auf den Rücken zu legen und setz dich neben sie.« Ich setzte ihn so hin, daß er ihr ins Gesicht sah und nicht sehen konnte, was ich tat.
»Jetzt sprich mit ihr.« Jacob sah mich hilflos an. Ich dachte kurz nach. »Erinnerst du dich, wie du mir erzählt hast, daß du einen guten Klavierschüler hast? Der Bach spielt? Was spielt er in seinem nächsten Konzert? Und warum? Erzähl Susanne von ihm.«
Sekundenlang sah Jacob verloren aus; dann entspannte sich sein Gesicht. Er wandte sich zu Susanne und fing an zu sprechen. Kurz darauf entspannte sie sich auch. Indem ich versuchte, sie so wenig
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