Das dunkelste Blau
lachte.
– Stell keine dummen Fragen. Geh und such deine Tochter.
Isabelle ging rückwärts hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Sie blieb einen Moment im devant-huis stehen. Etienne hatte noch nicht wieder mit dem Graben angefangen, und es war still, sehr still, eine Stille voller Geheimnisse.
Ich bin nicht allein hier mit Etienne, dachte sie. Marie ist hier, irgendwo in der Nähe.
– Marie! fing sie an zu rufen. Marie! Marie! Rufend ging sie in den Garten hinaus. Marie tauchte nicht auf, nur Hannah, die mühsam den Weg heraufkam. Isabelle hatte in Chalières nicht auf sie gewartet, sondern Jacob bei ihr gelassen und war den Weg zum Hof entlanggerannt, bis sie wußte, daß Hannah sie nicht mehr würde einholen können. Jetzt, als sie Isabelle sah, blieb die alte Frau stehen, stützte sich auf ihren Stock und atmete schwer. Dann senkte sie den Kopf, eilte an ihrer Schwiegertochter vorbei ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Es war gar nicht so leicht, Lucien betrunken zu machen. Er sah mich fortwährend über den Tisch hinweg an und trank sein Bier so langsam, daß ich meine Schlucke in mein Glas zurücklaufen lassen mußte, um auf ihn zu warten. Wir waren die einzigen Gäste in einer Bar mitten in der Stadt. Amerikanische Country-and-Western-Songs kamen aus der Stereoanlage; die Kellnerin las hinter der Theke die Zeitung. Moutier an einem verregneten Donnerstag im frühen Juli war vollkommen ausgestorben.
Ich hatte eine Taschenlampe dabei, verließ mich aber darauf, daß Lucien Werkzeug haben würde, falls wir welches brauchten. Er wußte allerdings noch nichts davon; er saß da, zeichnete Muster in die nassen Ringe, die von den Gläsern auf dem Tisch zurückgeblieben waren, und sah befangen aus. Es würde mühsam werden, ihn dazu zu bringen, mir zu helfen. Ich würde auf unorthodoxe Methoden zurückgreifen müssen.
Ich winkte der Kellnerin. Als sie herüberkam, bestellte ich zwei Whiskeys. Lucien starrte mich aus seinen großen haselnußbraunen Augen an. Ich zuckte die Achseln. »In Amerika trinken wir immer Whiskey zu Bier«, log ich verwegen. Er nickte, und ich dachte an Jean-Paul, der so eine lächerliche Behauptung nie hätte durchgehen lassen. Ich vermißte seine sarkastische Art; er war wie ein Messer, das durch den Dunst der Unklarheit schnitt, er sagte genau das, was gesagt werden mußte.
Als die Kellnerin die zwei Gläser brachte, bestand ich darauf, daß Lucien seines in einem Schluck hinunterschüttete, anstatt genießerisch daran zu nippen. Als er das Glas abgesetzt hatte, bestellte ich zwei weitere. Er zögerte, aber nach dem zweiten begann er sich sichtlich zu entspannen und fing an, mir von einem Haus zu erzählen, das er kürzlich gebaut hatte. Ich ließ ihn weiterreden, obwohl er eine Menge technischer Ausdrücke verwendete, die ich nicht verstand. »Es ist halb auf dem Berg, am Hang, das ist immer schwerer zu bauen«, erklärte er. »Und dann gab es Probleme mit dem Beton für l’abri nucléaire . Wir mußten ihn zweimal frisch anrühren.«
»L’abri nucléaire?« wiederholte ich, mit diesem Ausdruck konnte ich nichts anfangen.
»Oui.« Er wartete, während ich in dem Wörterbuch nachsah, das ich in meiner Tasche hatte.
»Sie haben einen Atomschutzkeller in ein Haus eingebaut?«
»Natürlich. In der Schweiz ist das Gesetz, daß jedes neue Haus einen Schutzkeller haben muß.«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Lucien mißverstand die Geste.»Doch es stimmt, jedes neue Haus hat einen Atomschutzkeller«, wiederholte er heftiger. »Und jeder Mann muß seinen Militärdienst leisten, haben Sie das gewußt? Sobald er achtzehn ist, muß jeder Mann siebzehn Wochen lang in der Armee Dienst leisten. Und danach jedes Jahr für drei Wochen in der Reserve.«
»Warum ist die Schweiz so militärisch, wenn sie ein neutrales Land ist? Wie im Zweiten Weltkrieg?«
Er lächelte grimmig. »Damit wir neutral bleiben können . Ein Land kann nur neutral bleiben, wenn es eine starke Armee hat.«
Ich kam aus einem Land mit einem riesigen Militärbudget und keinerlei Hang zur Neutralität; irgendwie schien es mir so, als wären Neutralität und eine starke Armee nicht zwangsläufig miteinander verbunden. Aber schließlich war ich nicht gekommen, um über Politik zu sprechen; wir entfernten uns mehr und mehr von dem Thema, das mich interessierte. Ich mußte irgendwie auf Kamine zu sprechen kommen.
»Also, woraus wird dieser Atomschutzkeller gebaut?« fragte ich unbeholfen.
»Beton und Blei.
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