Das dunkle Erbe
Bauarbeiten im Keller waren schon abgeschlossen, ich konnte sie nicht überzeugen. Also vergaß ich das Geheimnis. Aus den Augen, aus dem Sinn, wie das so ist bei kleinen Kindern.«
Viktoria atmete durch, füllte ihre Lungen mit neuem Atem. »Zu meinem Vater hatte ich immer ein schwieriges Verhältnis. Heinrich hatte nie Zeit für mich, er hetzte von Baustelle zu Baustelle, baute Köln wieder auf. Ich war stolz auf ihn, doch ein gemeinsames Leben hatten wir kaum. Auch Gustav war viel beschäftigt, aber abends kam er immer nach Hause, oft lud er mich ein, zum Essen zu bleiben. Irgendwann sprach er davon, zwei Töchter zu haben.«
Sie lächelte, als die Erinnerung in ihrem Kopf Gestalt annahm. Dann zwang sie sich, wieder ernst zu sein. »Als wir älter wurden, änderte sich alles. Eva wurde erwachsen und machte ihre ersten Erfahrungen. Ich blieb naiv, bemerkte nicht, was sich da zwischen ihr und Heinrich anbahnte. Er fuhr nach Frankreich, und kurz darauf war auch Eva weg, keiner wusste, wohin sie mal wieder durchgebrannt war. Dann kam die Nachricht von Heinrichs Tod. Gustav flog sofort nach Nizza. Er regelte wohl alles mit den Behörden, die näheren Umstände des Unfalls sollten nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Die Journalisten machten aus Eva ein Partymädchen, aber das erfuhr ich erst viel später. Vor einer Woche, um genau zu sein. Damals, Anfang der Sechziger, hatte ich nicht die geringste Ahnung. Ich wusste nur, dass mein Vater tot war.«
Ihr Mund war trocken, der Eistee ausgetrunken. »Macht es einem von Ihnen etwas aus, in den Keller zu gehen und uns eine gute Flasche Rotwein zu bringen?«
Raupach und Sharon sahen sich verwundert an.
»Das löst die Zunge. So heißt es doch, oder?«
Sharon kümmerte sich um den Wein und um Gläser. Sie nahm eine besonders gute Flasche aus dem Regal, wischte die Spinnweben ab.
Viktoria bestand darauf, mit ihren Gästen anzustoßen. Sie hatte selten Gäste. Raupach nahm nur einen kleinen Schluck, Sharon verzichtete. Viktoria roch an dem Wein, trank und behielt ihn lange im Mund. Dann fuhr sie fort.
»Wir wurden älter. Eva flippte immer mehr aus, spielte regelrecht verrückt. Schließlich ging sie zum Studium nach Amerika. Gustav und ich kamen uns noch näher. Nicht wie Sie denken.« Sie hob tadelnd den Zeigefinger. »Von seinen beiden Mädchen blieb ihm eines erhalten, das normale, pflichtbewusste, vielfältig interessierte. Damals stand Sartre hoch im Kurs, wir führten viele Gespräche über den Sinn des Lebens. Irgendwann zog er mich ins Vertrauen. Er erzählte mir alles, was er von dem Schatz wusste, unserem Geheimnis. Und was er Eva bis zuletzt verschwieg.«
»Wusste Heinrich auch von dem Schatz?«, fragte Raupach.
»Natürlich, er hat Wenzel ja diese Hitler-Geschenke gebracht, damit er sie für ihn aufbewahrte, in dieser Grube, das war ein perfektes Versteck. Die Amerikaner waren 1945 im Anmarsch, was glauben Sie, was die mit meinem Vater gemacht hätten? Er wäre als Kriegsverbrecher verurteilt worden.«
»War er das?« Sharon konnte kaum fassen, was sie da alles hörte. Das Aufnahmegerät in ihrer Jackentasche lief und zeichnete alles auf.
»Mein Vater gehörte zum Stab von Albert Speer, Hitlers Chefarchitekten, der später Minister wurde. Heinrich war noch jung, aber er bekam viele Aufträge, Bunker, Luftschutzkeller, der Bedarf war ja immens. Nach und nach vertraute Speer ihm besondere Aufgaben an. Hitler belohnte seine Eliten, indem er ihnen Landgüter übertrug.«
»Dotationen«, sagte Sharon. »Das war eine Art von Korruption.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls waren diese Landgüter oft in schlechtem Zustand, sie mussten saniert und ausgebaut werden, damit die neuen Besitzer entsprechend residieren konnten. Dafür war Heinrich zuständig. Mitten im Krieg setzte er Gutshöfe instand, in der Niederlausitz oder im Warthegau, in Pommern. Auch in der Berliner Reichskanzlei gab es immer etwas zu tun. Kennen Sie »Germania«, Hitlers Hauptstadtprojekt? Irgendjemand musste das doch alles zeichnen, statisch berechnen, die Modelle bauen, Speer und andere prominente Nazi-Architekten haben das nicht allein gemacht.« Viktoria Brehm wies auf die Kaffeekanne. »Dafür gab es dann Geschenke von ganz oben.«
Raupach bedeutete Sharon, sich mit weiteren Einwürfen zurückzuhalten. »Woher wissen Sie das?«
»Gustav hat es mir erzählt. Er fand, ich hatte ein Recht, es zu erfahren.«
»Und Sie verheimlichten es. Damit Heinrichs Name nicht befleckt
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