Das dunkle Erbe
ausgehen?«
»Darüber sprach sie eigentlich nie.«
»Gab es gar nichts Privates zwischen Ihnen?«
»Sie war immer sehr förmlich.« Schwan schien zu bedauern, wie schwierig es gewesen sei, einen Zugang zu seiner Praxispartnerin zu finden. »Bestimmt möchten Sie von mir hören, welche besonderen Beobachtungen ich gemacht habe. Ob Eva irgendwie anders war bei unserer Unterredung.« Er stand auf und ging an die Fensterfront.
Raupach zögerte. Ans Fenster treten und dem Verdächtigen den Rücken zukehren. Ein alter Trick, um den Eindruck zu vermitteln, der Kommissar habe den Überblick, wisse mehr. Er tat das selten bei Vernehmungen. Viele Ermittler tigerten dauernd um die Befragten herum, kreisten sie ein mit ihren Fragen und ihrer Präsenz. Raupach hielt auch das für Schmierentheater.
Jetzt spielte Schwan den Chef, der versonnen nach draußen blickt. Vielleicht hatte er sich das in seiner Praxis angewöhnt. Er verhielt sich bei der Vernehmung häufig wie jemand, der den Ton angab, die Initiative übernahm. Wollte er dadurch ein Stück Kontrolle zurückgewinnen?
»Ich habe über dieses Gespräch lange nachgedacht«, begann Schwan. »Weil ich wusste, dass Sie mich danach fragen würden. Die letzten Worte einer … Verschwundenen sind ja wichtig.« Während er sprach, schaute er Raupach nicht an. Er hob die Hand und berührte das Fensterglas mit den Fingerspitzen. »Es stimmt. Eva wirkte anders als sonst. Verstört. Ich glaube, sie verschwieg etwas.«
Raupach erhob sich und stellte sich neben Schwan. »Wie kommen Sie darauf?«
»Dauernd nestelte sie an den Plänen für den Kellerumbau herum. Ich denke, es war ihr überhaupt nicht gleichgültig, was da unten passierte.«
»Haben Sie nicht gesagt, Eva von Barth wehrte sich gegen eine Veränderung?«
»Sie hatte etwas Bestimmtes vor. Aber sie sagte nicht, was. Vielleicht wartete sie noch.«
»Irgendeine Ahnung, was es sein könnte?«
»Ganz sicher wollte sie den Keller nicht nur für sich haben. Es muss etwas gewesen sein, das sie nicht allein betraf. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Vielleicht hat auch sie jemandem Versprechungen gemacht«, schlug Raupach vor.
»Nein, Eva hätte mir nicht verschwiegen, wenn sie selber einen Kandidaten für den Keller gehabt hätte.« Schwan fuhr mit den Fingern über die Scheibe. »Ein sozialer Typ wie sie denkt zuerst an die Allgemeinheit.«
»Welches Interesse sollte die Allgemeinheit an ihrem Keller haben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Oder hatte sie doch persönliche Gründe? Ein Schatten der Vergangenheit? Die Menschen reagieren oft seltsam, wenn jemand aus ihrem Vorleben auf der Bildfläche erscheint.«
»Über ihr Vorleben kann ich nichts sagen. Mag sein, dass Sie auf der richtigen Spur sind. Eva wirkte … abgelenkt. Als gäbe es neben dem, was sie offenbar verschwieg, noch ein schwerwiegenderes Geheimnis.«
»Wie meinen Sie das?«
Schwan fuhr sich mit der Handfläche übers Kinn und dachte nach. »Ich versuch’s mal mit einem Beispiel. Nehmen wir an, Sie haben ein Problem. Sagen wir, Ihr Assistent hat einen Fehler gemacht.«
»Meine Assistentin.«
»Wie auch immer. Während Sie darüber nachgrübeln, merken Sie, dass es gar nicht an Ihrer Assistentin liegt. Der Fehler ist nur die Spitze des Eisbergs. Sie hätten schon viel früher etwas unternehmen müssen, es gar nicht so weit kommen lassen dürfen.« Schwan nickte.
»Nach meiner Bekehrung ging es mir ähnlich. Ich hab mein Leben immer wieder Revue passieren lassen. Tagelang tauchte ich ab in diese Welt und überlegte, was ich hätte anders machen können.«
»Dass Sie geheiratet haben?«
»Viel früher. Die ersten einschneidenden Erfahrungen. Prägungen, Weichenstellungen. Noch im Schlaf hab ich mir überlegt, was gewesen wäre, wenn ich dieses getan und jenes unterlassen hätte.«
»Jugendsünden?«
»Genau.«
Raupach nahm den Gedanken auf. »Eva von Barth ist 61. Als sie eine junge Frau war, hatten die sechziger Jahre gerade angefangen.«
»Keine besonders umwälzende Zeit.«
»Wie man’s nimmt. Es gab noch keine Studentenproteste oder so etwas, aber viele der jungen Leute waren damals … im Aufbruch.«
»Der Krieg lag nicht lang zurück«, sagte Schwan. »Fünfzehn Jahre, was ist das schon? Auf die Gegenwart bezogen: Wie nah ist uns heute zum Beispiel die Wiedervereinigung? Das war doch fast gestern, oder?«
»Glauben Sie, dass wir es mit etwas Politischem zu tun haben?«
»Evas Verwirrung war anders. Da schwang Zuneigung mit,
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