Das dunkle Erbe
Nostalgie. Wehmut.«
»Können Sie das etwas genauer erklären?«
»Tut mir leid, ich kenne sie ja nicht gut genug. Es war ja auch nur so ein Gefühl, als ich mit ihr sprach.«
Sie stocherten im Nebel. Raupach ging zurück an den Schreibtisch. »Jetzt machen wir eine Pause. Zehn Minuten.«
Schwan löste sich nur widerstrebend von dem Fenster. »Wenn Sie möchten.«
BLIEB NOCH die Frau, die die Vermisstenanzeige erstattet hatte. Viktoria Brehm wohnte gegenüber. Eigentlich hatte Photini erwartet, dass sie irgendwann aufkreuzen würde, während sie sich in der Villa umsah. Das blieb einer aufmerksamen Anwohnerin doch nicht verborgen, ein fremder Wagen mit Polizeiplakette in der Windschutzscheibe, ihre Gartenbesichtigung mit Hornung.
Doch Photini hielt sich in einem Viertel auf, wo es die meisten Leute gewohnt waren, jemanden zu empfangen. Da lief man nicht neugierig herum und diente sich der Staatsmacht an. Viktoria Brehm bestätigte diesen Eindruck.
»Ich dachte mir, lass sie nur machen. Irgendwann wird sie schon den Weg über die Straße finden.« Die Frau bat Photini herein, auf einen Gehstock gestützt. »Gibt es etwas Neues von Eva?«
»Nein, bedaure.«
Viktoria Brehm ging ohne ein weiteres Wort voran in den Wintergarten. Ihr Gesicht war überraschend glatt, die Haut wurde oft mit Creme behandelt. Man roch es auch, Kamille.
Das Haus war ein Traum, ganz anders als der Mischmasch in der Ärztevilla. Hier lebte die Vergangenheit unverändert fort. Art déco der zwanziger Jahre, warm wegen des vielen Holzes, aber streng und klar, ohne Schnickschnack – und darin schon wieder museumsreif. Jedes Raumelement hatte seinen festen Platz.
Photini befand sich in dem Haus, das sie vom verwilderten Garten der Villa aus bewundert hatte. Manchmal war das Leben als Polizistin gar nicht so übel. Sie suchte Orte auf, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Oder an die sich niemand freiwillig hinbegeben mochte. Photini übertrat diese Grenzen.
Sie betrachtete es als Privileg, es war nicht immer gefahrlos, hielt aber Überraschungen bereit, die ihr kein anderer Beruf bieten konnte.
Raupach würde dieses Haus bestimmt gefallen, dachte Photini. Er mochte Stilreinheit und die Spuren jahrzehntelanger Benutzung. Sein eigener Traum war allerdings ein Haus im Cottage-Stil, hoffnungslos altmodisch, großmütterlich geradezu. Das letzte Bild, das er in seiner Freizeit gemalt hatte, zeigte ein solches Haus, mit Fachwerk, zahllosen Giebeln und einem rauchenden Schornstein. Raupach hatte es in eine menschenleere Landschaft hineingestellt. Bräunliche Hügel, denen man ansah, dass ein Hobbymaler versucht hatte, etwas Tiefenwirkung zu erzielen. Photini vermutete, dass er sich damit ein anderes Leben herbeiphantasierte, ohne Gefahren und Überraschungen.
»Einen Mokka, Fräulein Dirou?« Viktoria Brehm nahm im Wintergarten Platz und bot Photini einen ausladenden Rattansessel an. Der Terrassenboden bestand aus Holz, die Dielenbretter waren erst kürzlich verlegt worden.
»Gern.«
Um sie herum grünte es. Viele Pflanzen stammten vom Mittelmeer. Kräuter in Form großer Büsche, Agaven, Oleander, Zwergpalmen. Ein dunkelrosa Kirschbäumchen in einem Holzkübel. Es war der richtige Ort für eine gestresste Polizistin. Der Frühling wollte in diesem Jahr einfach nicht kommen. In den letzten Tagen war die Temperatur zwar gestiegen, aber davor war der April kühl und ungewöhnlich trocken gewesen.
»Können Sie Griechisch?«, fragte Photini. Kaum jemand sprach das D am Anfang ihres Namens stimmhaft aus, wie ein weiches th.
»Was man einmal lernt, vergisst man nicht.« Viktoria Brehm schenkte Kaffee aus einer bereitstehenden Kanne ein.
Ein Meißener Zwiebelmuster zierte das Service. Photini war versucht, den Boden ihrer Tasse anzuheben, um die Echtheit zu überprüfen, hielt sich aber zurück. »Im Altgriechischen betont man die Buchstaben anders.«
»Ich besitze ein Haus auf Euböa. Vater hat es erworben und eingerichtet. Ihre Sprache beherrsche ich seit meiner Kindheit.«
»Freut mich.« Photini ging nicht darauf ein. Ihre Sprache war Deutsch, auf Griechisch unterhielt sie sich nur mit ihren Verwandten. »Warum haben Sie Eva von Barth als vermisst gemeldet?«
»Wir hatten uns für Samstagmorgen verabredet, hier bei mir, da, wo Sie jetzt sitzen.«
Photini drehte sich unwillkürlich in ihrem Sessel und betrachtete das Polster.
»Eva kam selten zu spät, sie achtete auf Pünktlichkeit. Dann blieb sie plötzlich aus. Ich
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