Das dunkle Haus: Kriminalroman (Ein Erik-Winter-Krimi) (German Edition)
herunterkommen. Jemand lachte. Das Lachen hüpfte hinaus aufs Eis und über die Bucht. Es gab kein Echo, der Himmel warf nie ein Echo zurück.
Zwei Paare näherten sich dem Anleger mit Gläsern in der Hand, kamen auf ihn zu. Sie waren zu dünn angezogen, Kleider, Anzüge. Der Atem stand wie Sprechblasen vor ihren Mündern, redenredenreden, sie schnatterten miteinander, einzelne Wörter konnte er nicht unterscheiden. Sie schienen geradewegs auf ihn zuzukommen. Das gefiel ihm nicht. Er trat ein paar Schritte vom Rand des Anlegers zurück.
Winter setzte sich in Richtung Meer in Bewegung. Hinter ihm sagte der Wachmann etwas. Er drehte sich um, der Wachmann, das Handy am Ohr, winkte abwehrend. Benutzten die kein Freihandtelefon? Walkie-Talkie? Funk?
Er stand auf der Brücke, die zu Stora Amundö hinüberführte. Hier gab es keine Handy-Verbindung, nicht einmal bei Notrufen.
Die Insel glitzerte im Mondschein, schwarze Silhouetten, scharfe, weiche. Im Lauf der Jahre war er fast alle Wege aus verschiedenen Richtungen gegangen, wie die meisten Göteborger. Auf der anderen Seite der Schäre lag ein Badeplatz, der am besten für die Kleinen geeignet war, die Großen badeten entlang des Ufers von den Felsen aus. An dem Felsen an der nördlichsten Spitze war sogar eine Leiter angebracht. Sie war rostig gewesen, als er zuletzt dort gestanden hatte. Das war noch gar nicht lange her. Es war zu der Zeit gewesen, als noch alle Leitern in den Himmel führten. Er wünschte, es wäre immer noch so. In der Bucht im Westen hatten sie an dem kleinen Strand Würstchen gegrillt, genau gegenüber von der Stelle, an der er jetzt stand. Es war Winter gewesen wie jetzt, Januar oder Februar, so kalt wie jetzt, Lilly und Elsa hatten Treibholzstückchen gesammelt, die sie mit nach Hause nehmen wollten, um sie zu trocknen und Männchen daraus zu basteln, eine dicke Eisschicht hatte die südlichen Schären bedeckt, jedenfalls hatte es so ausgesehen. Er hatte die Würstchen gegrillt, bis sie verkohlt waren, dann schmeckten sie am besten. Es war der schönste Tag gewesen, der Himmel blau und unendlich, unbegreiflich blau musste er sich um die ganze Erde geschlossen haben.
Jetzt sah er rechterhand auf der Insel ein Licht blinken, sicher in der Nähe des Pfades, der zum Badeplatz führte, es zuckte hin und her – eine Taschenlampe. Das Licht verlosch und flammte wieder auf. War es der andere Wachmann, Sören? Warum hatte er sich auf die Insel verirrt? Der Parkplatz gleich neben der Brücke auf dem Festland war leer. Dort war keine Menschenseele. Er wusste, der Schock nach den Morden steckte den Bewohnern noch in den Knochen, wie ein Tsunami im Rückwärtsgang. Die Leute saßen in ihren Häusern, allein gelassen mit ihren Gedanken, oder sie versuchten, über sie zu sprechen.
Jetzt bewegte sich das Licht in Richtung Süden, über die Felder, auf denen im Sommer Pferde wie Wildpferde grasten. Der mit der Taschenlampe in der Hand musste seine Silhouette wahrnehmen, denn Winter stand mitten auf der Brücke. Unter ihm krachte das Eis.
Sollte er dem Licht folgen? Das wäre eine sehr dumme Entscheidung. Er spürte einen Hauch im Nacken, wie von einer fremden Hand. Es war wieder spannend. Er glaubte nicht, dass es jeden Abend passierte, was er in diesem Augenblick sah. Die Sig Sauer stieß gegen seinen Ellbogen, als sein Arm den Körper berührte, ein beruhigendes Gefühl. Manchmal hatte er gewünscht, ein Leben zu führen, in dem man keine Waffe trug, ein unschuldiges Leben, aber hier und in diesem Moment brauchte er die Sicherheit der Pistole. Hätte er ein unschuldiges Leben geführt, dann würde er nicht bei minus vierzehn Grad am Ende der Welt stehen und mit den Augen einem schwachen Lichtkegel folgen, der aus dem Nichts kommen und sich im Nirgendwo verlieren mochte. Aber Nirgendwo lag hinter ihm, was er jetzt sah, war die Zukunft, eine Zukunft voller Dunkelheit.
»Hallo!?«, rief er. »Hallo!?«
Das Licht verlosch.
»Hallo!«, rief Winter wieder. Er rief seinen Namen, wer er war, wiederholte seinen Namen.
Das Licht flammte wieder auf, näherte sich. Es ging schnell. Winter hatte sich in der Entfernung getäuscht, bei Dunkelheit ist es schwer, den Abstand richtig abzuschätzen.
Der Wachmann knipste die Taschenlampe aus, als er die Brücke betrat.
»Ach, Sie waren das«, sagte Winter. »Sören …«
»Sören Grönkvist. Haben Sie mit Pelle gesprochen?«
»Ja. Er hat sich Sorgen gemacht.«
»Glaub ich nicht. Aber ich hab keinen Kontakt
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