Das dunkle Labyrinth: Roman
starrte sie verständnislos an. »Wer war das? Und würde sie wirklich hingehen?«
Rose schnitt eine Grimasse. »Ein entsetzlicher alter Schwätzer, aber äußerst einflussreich, weil er so großes Aufhebens um seine guten Taten machte. Er verstand es, sich bei den richtigen Leuten einzuschmeicheln, und das brachte ihm Würdigungen ohne Ende ein. Jeder will bei Huldigungen an tugendhafte Tote gesehen werden. Schon die bloße Anwesenheit vermittelt ein edles Gefühl.« Sie rümpfte die Nase. »Morgan hat nichts damit zu tun, weil er den Kerl nicht ausstehen konnte und ihm auch nie schöntat. Aber ich kenne Lord Montague, der die Feier veranstaltet, und kann ihn dazu überreden, dass er Argyll um eine Spende bittet und ihn als Mitglied der Stiftung anwirbt. Das würde der Mann nie verweigern – so etwas ist viel zu nützlich fürs Geschäft.«
»Sind Sie sicher?«
»Aber natürlich! Die Feier ist morgen Abend um acht Uhr, und wir beide können hingehen.«
Hester erschrak. Es war eine hervorragende Idee, und die Gelegenheit war einfach zu gut, um sie zu verpassen, aber sie war schon viele Jahre nicht mehr bei einem solchen Ereignis gewesen und besaß keine passende Kleidung. »Rose, ich …< Sie verstummte. Es war ihr unendlich peinlich. Und am Ende sah es womöglich so aus, als hätte sie Angst davor und suchte nach einer Ausrede.
Rose blickte sie fragend an, und plötzlich verstand sie. »Zu kurzfristig, um eine passende Robe zu finden«, sagte sie taktvoll. »Borgen Sie sich doch eine von meinen. Ich bin zwar grö ßer als sie, aber mein Dienstmädchen kann das Kleid heute Nachmittag kürzen. Und dann müssen wir unseren Schlachtplan entwerfen.«
So wurde es Hester doch noch möglich, Rose Applegate zum Gedenkgottesdienst für Sir Edwin Roscastle selig zu begleiten. Es war eine extrem steife Angelegenheit mit vielen Gästen, darunter die Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft. Sie trafen vor der Kirche ein und entstiegen ihren Kutschen. Je nachdem, welches Maß an Trauer sie zur Schau stellen wollten und welche Farbe ihnen ihrer Meinung nach am besten stand, trugen sie Schwarz, Lila, Grau oder Lavendel. Hinsichtlich des Geschmacks hatten sich einige freilich gründlich getäuscht, wie Rose Hester ins Ohr flüsterte, nicht ohne die entsprechenden Personen diskret zu identifizieren.
»Dort ist sie!«, fiel ihr Hester jäh ins Wort, als sie Jenny Argyll in düsterem, aber hochmodischem Schwarz zum Portal schreiten sah. Sie bewegte sich mit einer gewissen Würde und unter totaler Missachtung des beißenden Ostwinds, auch wenn sie durchaus darauf achtete, im Windschatten ihres Mannes zu bleiben.
Rose zitterte am ganzen Leib. »Wir können jetzt hineingehen. Warum müssen sie solche Veranstaltungen auch immer in der kältesten Jahreszeit abhalten? Warum können die Leute nicht einfach im Sommer sterben?«
»Beim Empfang wird es umso wärmer sein«, tröstete Hester sie. »Hoffentlich bleiben die Argylls so lange.«
»Natürlich«, machte ihr Rose Mut. »Das sind Anlässe, bei denen man sich einschmeicheln, nützliche Kontakte knüpfen und sich von seiner besten Seite zeigen kann. Was natürlich für alle hier die Hauptsache ist.«
»Ist denn niemand hier, um Sir Edwins zu gedenken?«
Rose starrte sie ungläubig an. »Bestimmt nicht! Er war furchtbar! Je früher er in völlige Vergessenheit gerät, desto besser. Zu sterben war das Beste, was er in seinem Leben getan hat, und dafür hat er sich viel zu viel Zeit gelassen.«
Hester hielt dieses Urteil für sehr brutal, aber sie mochte Rose zu sehr, um ihr das zu sagen. Und tatsächlich, als sie die Lobreden über sich hatte ergehen lassen und die endlosen Ausführungen, wer den Verstorbenen warum bewundert hatte, war sie geneigt, Roses Standpunkt zu übernehmen.
Der Empfang danach war eine ganz andere Angelegenheit. Alle schienen genauso zu frieren und angeödet zu sein wie Rose und Hester. Mit schnellen Schritten liefen sie in dem peitschenden Wind die etwa hundert Meter lange dunkle Straße zum Prunksaal hinunter, wo köstliches warmes Gebäck, Würstchen, Kuchen und erlesene Weine auf sie warteten. Hester nahm dankbar einen heißen Bordeaux an. Als sie sah, dass Rose sich nur eine Limonade geben ließ, war sie überrascht, machte aber keine Bemerkung darüber.
Langsam begannen sie, sich unter die übrigen Gäste zu mischen, wobei sie es darauf anlegten, sich nach und nach Jenny Argyll zu nähern, stets darauf bedacht, sich ihre Absicht nicht
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