Das dunkle Labyrinth: Roman
anmerken zu lassen. Und natürlich wollten sie einen Zeitpunkt abpassen, zu dem Argyll nicht direkt neben ihr stand.
Rose trug Lavendel und Dunkelgrau. Und wie niemand umhin kam zu bemerken, gab sie mit ihrem blonden Haar und ihrer hellen Haut eine überaus elegante Figur ab. Unterhaltung und Belustigung waren bei dieser Veranstaltung wohl eher verpönt, doch Rose hatte ein warmes Lächeln und eine Begeisterungsfähigkeit, die die Menschen für sie einnahmen. Hester beobachtete amüsiert, dass es vornehmlich Männer waren, die sie ansprachen.
»Ich freue mich für Sie, dass Sie gekommen sind!«, rief Rose herzlich, um das Gespräch mit Jenny zu eröffnen. »Es gibt ja so wenig, was man in der Zeit der Trauer unternehmen kann, ohne gleich abfällige Bemerkungen hervorzurufen. Man fühlt sich so schrecklich isoliert. Bei mir war es zumindest so! Aber vielleicht empfinden Sie das ganz anders?«
Jenny blieb gar nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, wenn sie nicht unhöflich sein wollte. Abgesehen davon war Rose die Gattin desjenigen Abgeordneten, der für ihren Mann an erster Stelle stand. Mit sichtlicher Mühe riss sie sich zusammen. »Ganz und gar nicht. Sie sind sehr teilnahmsvoll.«
Hester wahrte einen Abstand von mehreren Schritten, als wäre Rose allein. Jenny Argyll wirkte gefasst, aber Hester konnte sehen, dass ihre Fassade sehr dünn war. Ihre Bewegungen waren steif und die Augen gerötet wie nach zu vielen schlaflos verbrachten Nächten und zu vielen Versuchen, die eigenen Gefühle zu unterdrücken, weil sie sonst fürchten musste, die mühsam errungene Stabilität für immer zu verlieren. Hester hatte sich die ganze Zeit geweigert, Verständnis für diese Frau aufzubringen, war sie doch davon überzeugt gewesen, dass Jenny ihre Sicherheit und ihr persönliches Wohlbefinden vor das Wohl ihrer Schwester gestellt hatte.
Doch als sie nun sah, wie Jenny sich zwang, höflich zu Rose Applegate zu sein, ergriff sie eine Woge des Mitleids. Jennys Augen waren voller Angst, und Hester schämte sich, dass sie sie so gedankenlos verurteilt hatte. Sie konnte nicht wissen, welche anderen Faktoren Jenny belasteten, welche Zweifel sie hatte, wem sie verpflichtet war, worauf sie Rücksicht nehmen musste. Jenny hatte ihren Vater und ihre Schwester verloren. Welchen Preis hatte sie zusätzlich gezahlt?
Rose führte wieder das Wort. Hester wusste, was sie als Nächstes sagen würde, um Jenny geschickt zu umgarnen, bis diese sich verplapperte und zugab, dass sie den Brief geschrieben hatte, der ihren Vater in den Tod gelockt hatte, und dass Argyll sie darum gebeten, wenn nicht sogar dazu gezwungen hatte.
Plötzlich tauchte Argyll mit einem Teller köstlichem Gebäck neben Hester auf. »Entschuldigen Sie.« Er zwängte sich an ihr vorbei, die Augen auf seine Frau gerichtet, das Gesicht angespannt und wütend. Man konnte fast meinen, er fürchtete, sie würde ihn irgendwie betrügen. Er sagte etwas zu Rose, aber seine Worte gingen in dem Stimmengewirr um sie herum unter. In einer beschützenden Geste legte er Jenny die Hand auf den Arm. Sie trat jedoch zur Seite und entfernte sich damit von ihm. Lag das daran, dass gerade eine große Dame in Schwarz an ihr vorbeigehen wollte, oder behagte ihr die Berührung nicht? Sie hielt den Kopf hoch erhoben und das Gesicht halb abgewandt. Die Bewegung war diskret, eher ein Zurückweichen als ein wirklicher Schritt.
Rose sagte wieder etwas. Ihre Augen wirkten beunruhigt.
Hester näherte sich ihr. Sie wollte die Worte, den Tonfall aufschnappen. Schützte Jenny Argyll ihren Mann, weil sie wollte – oder weil sie musste? Hatte sie eine Vorstellung von dem, was er getan hatte? War das der Grund, warum sie seiner Berührung reflexartig auswich?
Rose bemerkte Hester und stellte sie vor. Bei Hesters Nachnamen zögerte sie kurz, weil ihr klar war, dass »Monk« bei beiden heftige und zwiespältige Gefühle auslösen würde.
»Guten Abend«, sagte Hester so ruhig sie konnte, und sah erst Jenny und dann ihren Mann an. Als anziehend empfand sie ihn nicht, als hässlich aber auch nicht. Die Grausamkeit, die sie bei ihm zu sehen erwartet hatte, vermochte sie nicht zu entdecken. Seine Willensstärke wirkte irgendwie gedämpft. Hatte er zu guter Letzt Angst bekommen – vielleicht nicht vor der Polizei, aber dass seine Frau gegen ihn aussagen würde? Schließlich war er schuld am Tod ihres Vaters und ihrer Schwester. Welche maßlose Überheblichkeit hatte ihn zu der Vorstellung führen
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