Das dunkle Labyrinth: Roman
können, sie würde das erdulden und nichts dagegen unternehmen? War sie so verängstigt, dass sie selbst jetzt noch bereit war, ihn zu schützen?
Konnte sich das Böse tatsächlich in einem derart gewöhnlichen Gesicht verbergen? Oder war Hester blind dafür?
Rose machte belanglose Konversation. Alle warteten ab, was Hester tun würde.
»Da kann ich mich Ihrer Meinung nur anschließen«, sagte Hester aufs Geratewohl, in der Hoffnung, das Gespräch zu beleben.
Argyll musterte sie mit kalten Augen. Sie versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem sie unwiderruflich an einen Mann von solch frostiger Gleichgültigkeit gebunden wäre, manchmal sogar in der Intimität, immer auf ihn angewiesen, nicht nur, was die eigene Nahrung und Kleidung betraf, sondern auch die der Kinder. Ihr Name und ihre Ehre wären eng mit ihm verknüpft und am Ende vielleicht auch ihr Gewissen. Wie entsetzlich! Wie eingesperrt würde sie sich fühlen! Sie schämte sich für das, was sie Jenny antun musste, aber die Alternative war unerträglich. Egal, ob es einem etwas ausmachte, wenn Mary Argyll wie ihr Vater in einem Selbstmördergrab lag, aber niemand konnte es wollen, dass Aston Sixsmith wegen eines Verbrechens gehängt wurde, das er nicht begangen hatte.
Jenny sprach mit angestrengter, zu scharfer und zu hoher Stimme. Das Gespräch drehte sich noch immer um Trivialitäten: Erinnerungen an den Toten und die guten Zwecke, für die er sich eingesetzt hatte. Ein Diener kam mit einem Tablett, auf dem er Gläser mit heißem Wein und Limonade balancierte.
Weil es eng war und der Diener nicht an ihnen vorbeigehen konnte, nahm ihm Argyll das Tablett ab und bot es Hester an. Da der Wein, den sie kurz nach der Ankunft genossen hatte, sehr stark war, hielt sie es für klüger, diesmal Limonade zu trinken. Sie bedankte sich und reichte das Tablett an Jenny weiter, die zwischen ihr und ihrem Mann stand. Diese entschied sich nach kurzem Überlegen für Wein.
Rose nahm wie zuvor schon Limonade. Sie hob ihr Glas. »Auf die tapferen Männer, die Pionierarbeit für die Sozialreform leisten!«, rief sie und trank einen Schluck.
Die anderen stimmten mit ein. Mehr Leckerbissen wurden gereicht: süßes Gebäck, gefüllt mit zerstoßenen getrockneten Früchten, und Törtchen in höchst ungewöhnlichen Geschmacksrichtungen. Eines war köstlicher als das andere.
Während ein beleibter Herr mit dichten Koteletten Argylls Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, entstand Bewegung in der Menge, denn nun erklang Musik. Drei Musikerinnen hatten sich auf ein Podest begeben und spielten als Erstes ein melancholisches Stück ohne erkennbare Melodie.
Rose wandte sich an Jenny. »Ist das nicht schrecklich?«, sagte sie vertraulich, die Mundwinkel weit nach unten gezogen.
Jenny blickte sie verdutzt an. Bisher hatten sie die gezwungene Konversation von Zufallsbekannten geführt, die sich nicht füreinander interessierten, aber aus gemeinsamem Interesse die Konventionen respektierte.
Und dann brach Rose unvermittelt in Kichern aus. Es war alles andere als gedämpft und klang übertrieben fröhlich. »Nicht das Essen! Die Musik! Falls man das so bezeichnen kann! Warum, um alles in der Welt, können wir nicht ehrlich sein? Niemand hat Lust auf einen Trauermarsch, bloß weil der alte Trottel tot ist. Den meisten konnte er doch gar nicht früh genug abtreten. Der Tod war ja so ziemlich das Einzige, was ihm das Maul stopfen konnte.«
Jenny tat so, als hätte sie das nicht schockiert. Sie holte tief Luft und antwortete mit leicht zitternder Stimme: »Das mag schon sein, Mrs. Applegate, aber es ist dennoch nicht klug, das laut zu sagen.«
Erst jetzt, als es ihr schon fast wehtat, merkte Hester, dass sie die Luft angehalten hatte. Was war nur in Rose gefahren? Das war doch überhaupt nicht in ihrem Plan vorgesehen!
»Nur immer klug zu sein, ist Dummheit in Vollendung!«, erwiderte Rose nicht gerade leise. »Immer sind wir so sorgfältig darauf bedacht, keine Taktlosigkeit zu begehen, außer sie ist ungeheuer und katastrophal!« Sie breitete die Arme weit aus, um zu zeigen, wie ungeheuer die Taktlosigkeiten waren, und stieß dabei Jenny fast das Glas aus der Hand. »Sehen Sie nur, was Sie da anrichten!«, hielt sie ihr vor. »Schlechter Wein macht Flecken, wissen Sie.«
Jenny war nun sichtlich in größter Verlegenheit. Mehrere Gäste dehten sich zu Rose um und schauten sogleich hastig wieder weg.
Ein Kellner kam vorbei. Ohne hinzusehen, packte Rose eines der Gläser, leerte es
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