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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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in einem Zug und warf es über die Schulter. Es zerbarst mit einem lauten Klirren, aber das schien sie schon gar nicht mehr wahrzunehmen. Stattdessen marschierte sie zu den Musikerinnen hinüber. Mit ihrem hoch erhobenen Kopf, den rauschenden Röcken und ihrem hübschen Gesicht, das Farbe bekommen hatte, erregte sie einiges Aufsehen. Sie baute sich vor dem Podium auf.
    »Um Himmels willen, hören Sie mit diesem schrecklichen Gejaule auf!«, befahl sie wütend. »Sie da, mit der Geige, Sie klingen ja wie eine Katze, die nach einem Fischkopf schreit! Falls Sie die Meinung nicht teilen, dass der alte Einfaltspinsel in die ewige Marter eingegangen ist – was ich persönlich zugegebenermaßen für wahrscheinlich halte -, dann versuchen Sie doch bitte, so zu spielen, als würden Sie an Gottes Gnade glauben und daran, dass er vielleicht doch noch in den Himmel kommt!«
    Die Geigerin presste die Hände auf ihren Busen und ließ ihr Instrument zu Boden gleiten.
    Rose hob die Geige auf, legte sie an, schnappte sich den Bogen und begann selbst zu spielen. Das klang erstaunlich gut. Am Anfang spielte sie das Thema, das das Trio vorgegeben hatte, aber dann veränderte sie das Tempo, bis es wie die Musik in einem Varietétheater klang und unversehens in ein schnelles, derbes Wirtshauslied überging.
    Die Pianistin gab ein entsetztes Keuchen von sich und blieb wie erstarrt mit offenem Mund sitzen. Die Cellistin brach in Tränen aus.
    »Ach, hören Sie auf damit!«, fuhr Rose sie an. »Reißen Sie sich zusammen! Und halten Sie dieses Ding, wie es sich gehört!« Sie deutete auf das Cello. »Wie einen Geliebten und nicht so, als ob es Ihnen einen unschicklichen Antrag gemacht hätte.«
    Die Cellistin ließ ihr Instrument auf den Boden sinken und floh, den Bogen in der Hand, aus dem Saal.
    Die Geigerin fiel in Ohnmacht, oder gab das vor. Eine Frau brach in hysterisches Lachen aus. Ein Mann begann, die Worte des Wirtshauslieds zu singen. Er hatte einen kräftigen Bariton und kannte höchst bedauerlicherweise den vollständigen Text.
    Hester war wie gelähmt. Jenny, die dicht neben ihr stand, und der etwas weiter entfernt postierte Alan Argyll waren gleichfalls erstarrt.
    Rose spielte mit perfektem Gefühl für den Rhythmus weiter, wiegte den Oberkörper und klopfte mit dem Fuß den Takt.
    Plötzlich ließ die Pianistin jedes Schamgefühl fahren und fiel in das Lied mit ein. Ihr Gesicht war zu einem entsetzten Grinsen gefroren, das all ihre Zähne entblößte.
    Abrupt kam Leben in Alan Argyll. Er trat dicht an Hester heran. »Um Himmels willen!«, zischte er. »Können Sie nichts unternehmen, um sie zu bändigen? Das ist schrecklich! Morgan Applegate wird das nicht überleben!«
    Mit einem Schlag begriff Hester, dass sie wahrscheinlich die einzige Person im ganzen Saal war, die überhaupt etwas tun konnte. Sie war Roses Freundin. Da war es nicht nur ihre Pflicht einzuschreiten, sondern ein Gebot der Barmherzigkeit. Sie eilte zum Podest, wo sie vor den Stufen die langen Röcke raffen musste. Rose spielte immer noch, und das sogar sehr elegant. Inzwischen war sie bei einem anderen Lied angelangt, das freilich kein bisschen schicklicher war.
    »Rose!«, sagte Hester leise, aber bestimmt. »Es ist jetzt genug. Geben Sie der Geigerin ihr Instrument zurück. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«
    »Nach Hause, wie schön!«, rief Rose fröhlich, doch so laut wie zuvor. »Das ist ein schreckliches Lied, Hester. Vollkommen rührselig. Wir feiern den Tod von Sir Wieheißternoch. Wenigstens … ich meine, wir erinnern uns … voller Bedauern an sein Leben … Oh, das hätte ich nicht sagen dürfen!« Sie brach in Lachen aus. »Viel zu nahe an der Wahrheit. Bei Beerdigungen sollte man nie die Wahrheit sagen. Wenn ein Mann ein grausamer Langweiler war, wie unser Lord Kinsdale, dann sagt man, er war unheimlich kultiviert.«
    Ein in der Nähe stehendes Dienstmädchen, das mit wohligem Schauern zuhörte, schnappte schockiert nach Luft und umklammerte ihr Tablett fester.
    »Und wenn eine Frau ein Gesicht hatte wie ein zerrissener Stiefel, so wie Lady Alcott«, fuhr Rose unbeirrt fort, »dann sagt man, sie war eine gute Seele.« Mit einem erneuten Auflachen wich sie Hester aus und wurde immer lauter. »Wenn ein Mann ein Lügner und Betrüger war wie Mr. Worthington, preist man seinen Verstand. Wenn er seine Frau mit der halben Nachbarschaft betrogen hat, spricht man über seine Großzügigkeit. Jeder macht ein ernstes Gesicht und weint in sein

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